agenda 2010
: Degeneration hat begonnen

PETER ORTMANN ist wohl nur noch kurze Zeit Kulturchef der taz nrw. Die Degeneration hat längst begonnen.

Ein Bett im Kornfeld das ist immer frei denn es ist Sommer und was ist schon dabei. (J.D.)

Nun ja, ein Lager im kultivierten Kornfeld. Das wäre was. Frei ist da inzwischen zwar nichts mehr und fürs Sähen ist es längst zu spät. Und so können alle nur ernten, was degeneriert übrig geblieben ist – kraftlose Halme, vertrocknete Blüten. Den meisten Saft haben wohl noch die Wildkräuter, meist fälschlich als Unkraut diffamiert. Der Acker steht also optisch voll, doch fehlte ihm viel zu lange der Dünger. Nur Stroh ist stehen geblieben, samenlos, verdorben, unbrauchbar. Die Großgrundbesitzer haben längst aufgegeben. Die alten Pflanzen sollen sich nicht mehr vermehren und so züchten sie lieber im Gewächshaus alternative Sorten. Importieren Saatgut aus fernen Ländern, verändern die Gene der heimischen Gewächse, rauben ihnen ihre wilde Gewalt und funktionieren sie zum schnellen Gebrauch um. Fastfood-Kulturen überschwemmen die trockenen Äcker.

Bald werden Mähmaschinen kommen und die letzten grünen Halme schneiden, die unfruchtbaren Hülsen ausspeien und den Boden roden. Die Flächen werden immer weiter veröden. Unvermeidbare Erosion setzt ein. Es wird Jahre brauchen, bis solitäre Pflanzen sich wieder heranwagen, um winzige Reste des ehemaligen Reichtums zum Wachstum zu nutzen – es wird Jahrzehnte brauchen, um eine erneute dünne Vegetation zu erspähen. Gesät wird dennoch nicht wieder. Das Kulturland bleibt Wüste, denn der Sand hat längst die Getriebe der Bewässerungsanlagen unbrauchbar gemacht und die Sommersonne dörrt.

Ein alter Mann schlurft gedankenverloren über die staubigen Wege, die einst prachtvolle Namen trugen und von denen man Kulturgüter am Horizont bewundern konnte. Leise murmelt er von großen Taten der Vergangenheit. Von wogendem Korn und herrlichen Wiesen. Erzählt den wenigen im Dreck spielenden Kindern, die unter dem letzten Baum Schatten vor der heißen Herbstsonne gesucht haben, Geschichten. Die meisten handeln von der Zeit, bevor man aufbrach, die heimischen Kulturpflanzen zu unterjochen. Sie spendeten einst Kraft und Freude. Dann kamen diese Frauen und Männer, denen wenige Blüten wichtiger waren, als ganze Felder. Sie pflückten sie aus ihrer angestammten Umgebung und transportierten sie in sterile Gewächshäuser. Nun mussten sie dienen und anfangs fühlten sie sich deshalb sogar privilegiert. Sie lachten höhnisch, als die wenigen Unkräuter, die es unter das blitzende Glas geschafft hatten, ausgerissen wurden. Doch ihr Ende nahte – viel schneller, als sie gedacht hatten. Der alte Mann schaut auf seine Uhr mit Kalender. Es ist der 31. Oktober 2011.

PETER ORTMANN