Die Freunde des Hauses

Das Problem: Leipzig ist seit der Wende um 100.000 auf 500.000 Einwohner geschrumpft. Die eine Hälfte der Abwanderer zog es in die Umlandgemeinden, die anderen reisten den Jobs hinterher. Heute stehen in der Stadt 50.000 Wohnungen leer, viele Gründerzeitbauten – meist in weniger attraktiven Wohngegenden – sind vom Verfall bedroht.

Die Lösung: Das Leipziger Konzept der Wächterhäuser bringt EigentümerInnen und potenzielle NutzerInnen an einen Tisch. Der Plan ist: Die Besitzer der Häuser überlassen für eine vertraglich festgelegte Zeit KünstlerInnen, StudentInnen oder Vereinen ihre Immobilie – kostenlos. Dafür „wachen“ die neuen Nutzer über das Haus. Sie schützen es vor weiterem Verfall, bewohnen es und schaffen in strukturschwachen Quartieren Raum für Identifikation. So wie in der Kuhturmstraße 4. TAZ www.haushalten.org

AUS LEIPZIG DOMINIK SCHOTTNER

Einmal hätte Lindenau beinahe Glück gehabt. Aber das ging schnell vorbei. Olympia 2012 in Leipzig, dachte man, das wäre doch ein Glücksfall für Lindenau. Mit dem Olympiastadion, dem Olympiapark, der neuen S-Bahn-Trasse in, über oder neben Lindenau, dem Arbeiterviertel in Leipzig-West. Überall: Glück. Im Mai 2004 entschied das Internationale Olympische Komitee dann: Leipzig ist raus. Nix Olympia, nix Glück. Stattdessen die alte Leier. Leerstand. Rückbau. DDR.

Doch dann passierte doch noch etwas Gutes. Im Oktober 2004 kam Tim Tröger nach Lindenau und sagte, so ginge das ja wohl nicht mit dem Leerstand. Tröger, geboren 1968, trägt einen Hut ohne Krempe, der so aussieht, wie Patschuli riecht: süß. Blonde, lange Locken drängeln sich darunter hervor, ein Pferdeschwanz sitzt im Nacken. Trögers Gesicht ist schmal, die Augen sind tief im Schädel versenkt. Um seine Schultern hängt eine Tasche aus Lastwagenplane, an den Armen eine dieser praktischen Allwetterjacken.

Tröger ist Architekt und Stadtplaner. Jetzt steht er vor einem rot-weißen Klinkerbau in der Kuhturmstraße 4, nahe des Lindenauer Markts. „Wir übergeben dieses Haus heute an die Benutzer“, verkündet er feierlich und reicht Rotkäppchen-Sekt an die anwesenden Kunststudenten und die Selbsthilfeinitiative für osteuropäische Migranten, die das Haus seit zwei Jahren nutzen. „Diese Übergabe markiert das Ende unserer Arbeit – das, was wir uns immer gewünscht haben“, sagt Tröger leicht pathetisch.

„Wir“ ist HausHalten e.V., der Verein, dem Tröger seit der Gründung im Oktober 2004 ehrenamtlich vorsteht. HausHalten will leer stehende Leipziger Gründerzeithäuser vor dem Verfall retten und auf diese Weise Stadtbild und Stimmung aufhübschen. Weil aber Geld nie da ist, wo es hingehört, haben die HausHälter ein ungewöhnliches Geschäftsmodell ersonnen: das der Wächterhäuser. Damit haben sie ein ebenso interessantes wie kostengünstiges Element der Stadtplanung konzipiert, das nicht nur ostdeutschen Abwanderungsstädten wie Halle an der Saale, Chemnitz oder Görlitz zeigt, dass Sanierung nicht zwangsläufig Abriss bedeutet. Oder wie es euphemistisch heißt: Rückbau.

Im Gegenteil. Die HausHälter setzen darauf, mit der alten Bausubstanz zu arbeiten statt sie einfach mit der üblichen Retrosandsteinhülle aufzuhübschen. Die Besitzer maroder Immobilien sollen lediglich die Wasser- und Stromleitungen reparieren, die Dächer flicken und die Statik überprüfen lassen. Im Gegenzug verspricht HausHalten, „Wächter“ für ihr Haus zu suchen, Leute, die die Räume auf eigene Kosten renovieren und sich verpflichten, sie mindestens fünf Jahre lang zu nutzen. Miete sollen sie nach der Vorstellung des Vereins keine zahlen, aber die Betriebskosten.

Acht Hausbesitzer arbeiten inzwischen mit HausHalten zusammen. Ständig kämen neue Anfragen, sagt Tim Tröger. Heute und hier, in der Kuhturmstraße 4, verliert der Verein einen seiner Schützlinge. Aber das soll ja so sein. „Die Nutzer haben ab heute einen Vertrag direkt mit dem Besitzer des Hauses. HausHalten e.V. als Mittler zieht sich zurück“, freut sich Tröger.

Freunde des Hauses sind gekommen, um die Entlassung zu begießen. Kreative, Kunstinteressierte, Bekannte der Betreiber der Galerie kuhturm im Erdgeschoss. Kuhturm, das sind Denis Luce, Inga Martel, Sebastian Helms und Stefan Riebel, die an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst studieren. Die Idee, mit der Galerie in ein Wächterhaus zu ziehen, kam ihnen während des Seminars „Kunst und Partizipation“. Kunst in eigenen, bezahlbaren Räumen öffentlich zu machen, ein Stück Selbstverwirklichung – diese Schiene, aber „seriös“, sagt Sebastian Helms, war der Grund für den Gang nach Lindenau. Wie lange sie bleiben wollen? „Erstmal die fünf Jahre“, meint der 26-jährige Helms, der mit Stefan Riebel derzeit alleine den Laden schmeißt, weil die zwei KollegInnen die Welt bereisen. „Wir sind keine bekloppten Kids. Ich denke, das sehen die Lindenauer ähnlich.“

„Jetzt ist der Ort wichtig“

Uhrmacher Bernd Junghähnel, immerhin der Nachbar des kuhturm, kennt die Haussanierer flüchtig. Das Geschäft? Laufe durch die jungen Kreativen auch nicht besser, klagt der 64-Jährige: „Ein Schnürsenkel außerhalb der Reihe ist deswegen nicht drin.“ Immerhin, das „Gesindel“ hätten die Wächter vertrieben, ja doch, die Obdachlosen und Punks, die früher in dem Bau gehaust haben. Aber die Gegend hier zu beleben, wie es sich HausHalten erhofft, das traut er den Wächtern nicht zu. „Es ist halt so“, sächselt Junghähnel, „wenn der Schornstein qualmen soll, muss man unten was reinstecken.“

Tausend Euro hat Sebastian Helms investiert, um in der ersten Etage des Kuhturm sein Atelier einzurichten. Schimmel abkratzen, Böden schleifen, Wände weißeln, das komplette Programm. Auch im Erdgeschoss: „Jetzt ist der Ort wichtig“, sagt er und blickt stolz in die nackten, unbeheizten Räume.

Wenn sie Hunger haben, gehen die Künstler in den „Schotten“ am Lindenauer Markt. Eine verrauchte Spelunke mit zurückhaltender Speisekarte und billigem Bier. Aufgedunsene Gestalten an den Tischen, die Mienen vom Poltern schon ganz finster. Aber das Essen sei okay, erklärt Helms, und „das Leben hier ist realer“. Realer als etwa auf der Karli genannten Karl-Liebknecht-Straße, südlich des Leipziger Stadtzentrums. „Etliche Szenekneipen haben dort ihr Biotop gefunden“, schreibt ein Reiseführer über die mondäne Straße. Über Lindenau hingegen verliert das Buch kein einziges Wort. „Ich habe das Gefühl, in Lindenau wohnen vergessene Leute“, sagt Sebastian Helms. Vergessene Leute in einem vergessenen Stadtteil.

Irgendwann kamen die „Vergessenen“ natürlich in den Kuhturm. Gucken. Standen plötzlich im Kunstraum und schauten sich eine Ausstellung an. Einer hat mit einem Filzstift seine Lebensgeschichte auf die Bilder geschrieben. Ein anderer knöpfte sich jeden Künstler einzeln vor, um ihm seine Meinung zu geigen zum Thema Kunst. „Manche sind besoffen und wollen nur Aufmerksamkeit“, stellt Sebastian Helms ohne Verachtung in der Stimme fest, „aber so haben sie die Chance, mal neue Gesichter zu sehen und Kunst.“

Holger List zum Beispiel, Nachbar aus der Kuhturmstraße 2. 43 Jahre alt, arbeitslos. Über den Bauch spannt sich ein Trikot seines Lieblingsvereins FC Sachsen Leipzig, dazu eine Jogginghose, die nackten Füße stecken in Hausschuhen. Als der Umbaukrach vor zwei Jahren losging, hat List sich im Hinterhof seines Hauses lautstark über den Lärm gewundert. Jetzt hilft er nach manchen Veranstaltungen beim Abbau: „Die machen hier rischt’sch gute Sessions, rischt’sch holiday“, sächselt List. „Die bringen richt’sch Leben ins Viertel.“

Die Stadt ist Gabis Geliebte

Ein paar Kilometer entfernt tritt Stefan Gabi ans Fenster seines Büros. Von hier, aus dem achten Stock eines Plattenbaus, kann der 38-jährige Mainzer quer über die hippe Südvorstadt bis nach Grünau sehen. Früher hatte das drittgrößte Plattenbaugebiet der DDR den typischen Bevölkerungsmix aus Akademikern, Arbeitern und Spitzensportlern. Heute ist es ein Problemviertel. Wie Lindenau. Ein Fall für Gabi.

Überhaupt ist alles in Leipzig ein Fall für Gabi ist, den stellvertretenden Leiter des Leipziger Amts für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung. Natürlich auch die Wächterhäuser – Gabi ist der Kontaktmann für HausHalten e.V. Gabi sagt, er versuche, „den Konflikt zwischen Zu- und Wegzug zu regeln.“ Klingt machbar, ist allerdings eine Sisyphosaufgabe.

Denn das Leipziger Leerstandsproblem (siehe Kasten) ist alt und hausgemacht. 1930 lebten noch 720.000 Menschen in der wohlhabenden Handelsstadt. Entsprechend war die Zahl und Ausstattung der Wohnquartiere: groß und großzügig. Heute leben in hier nur noch 506.000 Bürger und Steuerzahler. Seit der Wende ist Leipzig zu einer „perforierten Stadt“ geworden. Wie zwei Briefmarken, die man an ihrem gezackten Rand auseinanderreißt, droht die einst kompakte Stadt auseinanderzufallen. Wo einmal Häuser standen, klaffen heute Baulücken oder Hundewiesen, Parkplätze oder Grünanlagen. Und viele der Häuser, die topsaniert sind, stehen leer, 20 Prozent in der ganzen Stadt. Gabi sagt: „Wir haben hier echt das Problem, dass viel mehr zu machen wäre, als wir machen können.“

Der gebürtige Mainzer könnte unter der Last dieser Aufgabe ächzen, zumal wenn, wie jetzt, das x-te sinnlose Einkaufszentrum in die Innenstadt geklotzt wird. Aber was brächte Gabi das? Er hat sich schließlich – „ach, das klingt so pathetisch“, sagt er – damals, bei seinem ersten Besuch 1992 „sofort in diese Stadt verliebt“. Und deswegen schraubt er seit zehn Jahren beruflich an seiner Geliebten herum. „Experimentell“ sei mancher stadtplanerische Ansatz gewesen, gesteht er, und „nicht alle haben zum Ziel geführt“. Ans Aufgeben denkt er deshalb nicht. Lindenau zum Beispiel – „Lindenau ist noch nicht über den Berg.“ Es klingt wie eine Kampfansage.

Statt wie früher nur Abrissbirnen und Planierraupen zu schicken, denkt Gabis Verwaltung inzwischen auch über andere Wege nach. Klar, abgerissen und planiert wird in Leipzig immer noch, oft in einer Weise, die an Kulturvandalismus erinnert. Aber heute arbeitet die Stadt eben auch eng mit Vereinen wie HausHalten zusammen, die blutarme Viertel wie Lindenau beleben wollen. Mit Kunst, mit jungen Menschen, mit unkonventionellen Methoden. „Ganzheitlichkeit“, nennt der Stadtplaner das und lächelt kurz wie zur Entschuldigung, „Ganzheitlichkeit hat ja so einen Klang … wie aus der Pädagogik.“ Wieder etwas Neues Stefan Gabi und seine Stadt.