agenda 2010
: Die trügerische Ruhe

PETER ORTMANN ist Kulturchef der taz nrw. Denkt er an 2010 in der Nacht, dann ist er um den Schlaf gebracht.

I‘m so tired, I haven‘t slept a wink I‘m so tired,

my mind is on the blink. I wonder should I get up and fix myself a drink.No, no, no (Lennon/McCartney)

Stille kann lähmen. Geräuschlos kann man töten. Bleiern liegt die warme Luft über dem Ruhrgebiet. Nur das Amsel-Paar auf dem Balkon hat keine Ruhe. Ständig wollen die drei nackten Kleinen unter dem Sonnenschirm gefüttert werden. Sie wissen noch nichts von den bösen Elstern, die auf dem Dach gegenüber scheinbar teilnahmslos in den blauen Himmel starren und doch immer ein böses Auge auf die flatternden Endlosschleifen haben.

Meine überarbeiteten Augenlider sinken. Letzter Gedanke: Sind die Rabenvögel da oben die Bösen und die Amseln, auch als Schwarzdrosseln bekannt, die Guten? Ich weiß es nicht. Auch wenn der melodiöse Gesang, den die männlichen Amseln laut vortragen, als besonders schön gilt – nach einem Dutzend Vorträgen auf unserer Balkonbrüstung gönne ich dem Bösen doch mal seinen Spaß. Laut sage ich das natürlich nicht, entrüstete Blicke wären mir sicher. Das ist der Knut-Effekt. In der germanischen Mythologie war die Elster ein Vogel der Todesgöttin Hel, im Mittelalter gar als Hexentier und Galgenvogel ziemlich unbeliebt – ein Unheilsvogel. Wie echte Raben. Alle kreisen sie über dem Revier.

Der Schwarm verdunkelt das Azur nebst goldener Sonnenscheibe und lähmt wohl auch die Aktivitäten in der zukünftigen Kulturhauptstadt. Momentan herrscht auf der Kultur-Szene ziemliche Niedergeschlagenheit. In gewisser Weise ist es ein Flirting with Disaster. Kulturschaffende, die sich der Unterstützung ihrer Heimat-Kommune sicher sein können, sagen: „Wir werden das Kind schon schaukeln“. Die anderen winken nur noch resigniert ab. Das künstlerische Direktorium der Ruhr.2010 GmbH erarbeitet zwar einen Kriterienkatalog, der die Auswahl der Ideen im Oktober transparent macht, doch einen eigenen Ansatz haben sie wohl noch nicht entwickelt oder transportieren ihn nicht in die Öffentlichkeit.

Hat sich schon jemand Gedanken darüber gemacht, welche psychischen Auswirkungen dieses Nullsummenspiel auf die Kulturschaffenden haben könnte? Bestimmt nicht. Das Kuratorium steht wahrscheinlich eher auf griechische Mythologie und auf Göttin Ate. Sie ist die personifizierte Verblendung, die des Menschen Geist und Gemüt betört und ihn dann ins Unglück stürzt. Ich sehe brotlose Künstler, die von Brücken springen, da endet der einschläfernde Amselgesang abrupt – die Rabenvögel greifen an. Die Schwarzdrosseln zetern, flattern, starten eine gelungene Kamikaze-Gegenoffensive. Ich bin wieder hellwach, denke an 2010 und grinse böse.

PETER ORTMANN