„Touristen sollte man nicht unterschätzen“

MAUERFALL Es ist Samstag, Stoßzeit am Checkpoint Charlie. Unter die jungen Männer mit Uniform, die sich von den Touristen fotografieren lassen, mischt sich unser Autor. Ein anderer beobachtet aus der Ferne. Zwei Perspektiven auf die Erinnerung an die Teilung – und auf das Geschäft, das daraus geworden ist

■ Ich bin 38 und freier Reporter in Berlin. Meistens schreibe ich auf Englisch, aber ich kann auch Deutsch. Ich habe nichts dagegen, mich von Touristen aus aller Welt in der Uniform einer ehemaligen Diktatur fotografieren zu lassen – solange es nur für einen Nachmittag ist. Die Frau im Kostümverleih fand es auch nicht merkwürdig. Als ich die (übrigens originale) NVA-Uniform zurückbrachte, wollte sie nur wissen, ob jemand gemerkt hat, dass die Mütze falsch war. Ja, hab ich gesagt, haben sie.

VON BEN KNIGHT
UND FRANCESCO GIAMMARCO
(TEXT) SOWIE AMÉLIE LOSIER (FOTOS)

Ich hab mich beworben, denn ich wollte alles richtig machen. Aber Samuel, der Chef der Schaustellertruppe, die tagtäglich als amerikanische Soldaten und Grenztruppen verkleidet am Checkpoint Charlie steht, braucht mich nicht. Sie hätten schon genug Männer, sagt er. Aber ich denke mir: Das kann ich auch. Zwei Euro für zwei Fotos, einmal salutieren, Daumen hoch, posieren. Samuel ist überrascht, dass sich einer extern bewirbt. „Meistens fragen wir immer nur Freunde und Brüder und so“, sagt er. Tja, es ist eben nicht so leicht, in die Vetternwirtschaft einzudringen.

Der Himmel über dem Checkpoint Charlie ist so grau wie der Asphalt, auf dem er steht. Es ist kalt geworden in Berlin, auf sechs Grad ist das Thermometer gefallen. Dennoch sind wieder Hunderte gekommen, um die ehemalige Grenze der geteilten Stadt zu sehen. Dabei ist eigentlich nichts mehr übrig. Keine Mauer verläuft mehr durch Berlin. Am Checkpoint steht nur noch die Nachbildung der amerikanischen Kontrollbaracke.

Ich konnte weder eine sowjetische noch eine amerikanische Uniform auftreiben. Also fuhr ich zum Kostümverleih und habe mir eine Uniform zusammengestellt.

Der Checkpoint Charlie ist eine der beliebtesten Sehenswürdigkeiten in Berlin, wie der Arc de Triomphe in Paris oder das Kolosseum in Rom. Begehbare Überbleibsel der Geschichte. Von 1961 bis 1990 verlief hier ein Grenzübergang durch die Berliner Mauer. Zutritt nur für Bürger anderer Staaten. Eine Schleuse zwischen West und Ost. Hier trafen die Fronten des Kalten Kriegs aufeinander. Im Oktober 1961 standen sich hier sowjetische und amerikanische Panzer gegenüber. Menschen starben an dieser Grenze.

Als ich ankomme, stelle ich mich vor die Bude. Sofort kommt ein gestresster Familienvater auf mich zu. „Sie wissen schon, dass Sie auf der falschen Seite stehen, oder?“, gestikuliert er. „Da drüben war die sowjetische Seite. Meine Kinder sind jetzt ganz durcheinander. Ich muss denen doch alles erklären.“

„Ja, ich weiß“, antwortete ich, „aber ich darf da drüben nicht stehen.“

Heute ist der Checkpoint Charlie nur noch gefährlich, weil auf der Friedrichstraße Autos fahren. Das scheint den meisten Touristen, die blind über die Straße gehen, um sich für ein Foto anzustellen, erst klar zu werden, wenn schlecht gelaunte Berliner Autofahrer sie böse anhupen.

„Und die Uniform ist auch falsch“, fährt der Familienvater fort. Da hat er natürlich recht. Aber ich hatte keine andere Wahl. Beim Kostümverleih war mir die Hose für die GI-Uniform zu eng, und bei der sowjetischen Uniform fehlten diese schicke Schulterdekoelemente. Also nahm ich eine NVA-Uniform und eine Mütze von einem sowjetischen Offizier, auch etwas zu klein. Die doofen Touristen merken das nie, dachte ich. Aber der genervte Vater ist einer von vieren, die mich darauf ansprechen. Touristen darf man nicht unterschätzen.

Auf der Ostseite des Häuschens stehen vier Männer, verkleidet als amerikanische GIs. Sie sind das Ziel der unvorsichtigen Touristen. Mit ihnen kann man sich fotografieren lassen, für eine Spende von zwei Euro – so steht es auf ihren Taschen. Geld verlangen dürfen sie nicht, dann hätten sie ein Gewerbe. Eine Spende aber ist erlaubt. Zumindest in Friedrichshain-Kreuzberg. Dafür darf man so viele Fotos machen, wie man will.

Kostüme sind wie geschaffen für schüchterne Menschen. Sobald man verkleidet auftritt, haben viele Leute das Gefühl, dass sie mit dir reden können. Die Hemmungen sind weg. Vor allem in einer Uniform bist du plötzlich ein Teil der Öffentlichkeit. Auf der anderen Seite darf dich jeder anschnauzen. Ein Schweizer, ausgestattet mit einer professionellen Kamera, hält mich auf und knipst. Dann sieht er mich prüfend an. „Sie gucken viel zu freundlich,“ sagt er schließlich. Von nun an bemühe ich mich, ernst zu gucken, wenn mich jemand fotografieren will.

Der Checkpoint Charlie ist kein Ort, den man sich anschaut. Es ist ein Ort, den man fotografiert. Die Leute protokollieren ihre Anwesenheit. Sie fotografieren sich, während sie darauf warten, ein Foto mit den GIs machen zu können. Dabei werden sie wiederum von anderen Touristen fotografiert: zum Beispiel von denen, die auf dem Balkon des McDonald’s stehen. Ja, an der ehemaligen Grenze zum Sozialismus steht heute ein McDonald’s.

Viele knipsen aus der Entfernung, ohne zu fragen. Andere gucken ein bisschen misstrauisch, als ob ich gleich Geld verlangen würde. Als einer – ein Libanese – sich zu fragen traut, ob er für ein Foto zahlen müsse, habe ich einen Witz vorbereitet: „No, you only have to pay for the American soldiers, because they are capitalists. This is communism – all paid for by the Russian state.“ Auf einmal stand eine Schlange vor mir. Inder, Argentinier, Koreaner. Niemand ist glücklicher als ein Tourist, der etwas gefunden hat, das umsonst ist.

Touristen heute zeigen bemerkenswerte Selbstständigkeit: Vorbei sind die Zeiten, in denen aufgeregte Familien unbeteiligte Stadtbewohner dazu nötigten, ein Foto von ihnen zu machen. In Zeiten des Smartphones macht man Selfies. Und die macht man bekanntlich selbst.

Nur wer ein Foto mit den GIs will, muss seine Kamera abgeben. Einer der GIs übernimmt das Knipsen, damit man sich selbst zwischen die beiden anderen Soldaten klemmen kann.

Die Prozedur ist immer die gleiche. Erste Pose: salutieren, ernst gucken.

Eine nette Familie – Mann und Frau, zwei Jungs – aus Frankfurt bedauert mich. „Komisch, dass nicht mehr Leute zu Ihnen kommen.“ Der Mann hatte eine Erklärung. „Es sind viele Amerikaner hier, die wollen natürlich neben ihrer Fahne stehen.“ Tatsächlich kommen nicht so viele Amerikaner auf mich zu. „That’s a Russian commie, Danielle!“, ruft ein Mann und lacht, als eine junge Frau ein Bild mit mir haben will. Ich salutiere und schaue ernst.

Zweite Pose: Daumen hoch, lächeln. Die dritte Pose darf man sich aussuchen: Freestyle.

Der Frankfurter Familienvater war schon mal hier, das war 1980 mit seiner Schulklasse. „Wir waren auch drüben“, erzählt er. Vorher haben wir alle die üblichen Witze gemacht, wie Kinder so sind. Aber das Lachen ist uns im Hals stecken geblieben. Das war alles nicht so lustig damals. Ich sehe es immer noch vor mir, wie die Grenzer ganz lange geguckt haben. Erst auf den Pass, dann auf dich. Dann wieder auf den Pass. Das war echt … ja … nicht so lustig.“

Fast alle halten sich an den Ablauf. Bis auf einen jungen, betrunkenen Russen. Er trägt eine Sonnenbrille im Gesicht und ein Bier in der Hand. Es ist kurz vor 14 Uhr. Er drängelt sich vor und stellt sich zwischen die GIs. Erste Pose: Stinkefinger an die beiden amerikanischen Flaggen. Zweite Pose: Zunge raus und mit den Fingern den Surfergruß Hang Loose formen. Locker bleiben.

Auf einmal hält ein Taxi vor mir, mitten auf der Straße. Der Taxifahrer steigt aus.

„Seid ihr jetzt auf beiden Seiten, oder was?“

„Nein, ich bin nur heute da. Zum Ausprobieren“, antworte ich.

„Nur heute? Was sage ich dann zu dir? Ich sag immer Charlie Braun zu den beiden auf der anderen Seite. Ich sag immer: Hi Charlie. Hi Braun. Und dann sagt der: Ich heiße gar nicht Charlie.“

„Sagen das alle Taxifahrer?“, will ich wissen.

„Nee, nee, nur ich.“

„Ach so.“

„Du kannst nicht hier stehen. Wir haben eine Genehmigung“

SAMUEL, FOTOMOTIV

„Weil, es heißt ja Checkpoint Charlie.“

„Ja, ich weiß.“

Der Grenzer, der mit der NVA-Uniform und der Russenmütze, kommt aus dem Westen. Auf der rechten Straßenseite läuft er die Friedrichstraße hinauf. Niemand scheint irritiert. Als er die Höhe der Baracke erreicht, bemerkt ihn einer der GIs. Er fixiert ihn kurz, in seinem Gesicht keine Regung. Dann, nach ein, zwei Sekunden wendet er den Blick ab. Der Grenzer steht erwartungsvoll auf dem Bürgersteig. Niemanden scheint es zu stören, dass er da ist. Er geht über die Straße, nähert sich der Schlange, die für ein Foto ansteht. Die Männer in den GI-Uniformen ignorieren ihn. Sogar als er direkt neben einem steht, passiert nichts.

Nach zwei Stunden wird es langsam kalt. McDonald’s und Starbucks sehen verlockend aus. Außerdem hat ein Pferd von einer Touristen-Pferdekutsche direkt neben meinen Platz geschissen. Obwohl der Haufen inzwischen von den Taxis plattgefahren wurde, stinkt es immer noch.

Eine Pferdekutsche kommt die Friedrichstraße entlang, macht hinter der Baracke eine Wende und fährt die Straße wieder hinauf. Die Pferde haben ein Andenken dagelassen, nun riecht es auf dem Checkpoint Charlie nach Scheiße.

Eine Gruppe Teenager kommt auf mich zu. „Musst du da stehen?“ Der Anführer guckt etwas mitleidig.

„Nein, eigentlich nicht.“

Der Grenzer stellt sich auf der Rückseite der Hütte auf, den Blick Richtung Westen. Erst mal reagiert niemand auf ihn. Schließlich spricht ihn eine Gruppe von Jugendlichen an. Sie unterhalten sich, und dann, zum Abschied, machen sie gemeinsam ein Foto.

„Kannst du ein bisschen was über die Grenze erzählen?“ Scheiße, ich habe gehofft, ich würde ohne diese Frage durchkommen. Ich fange an, den Jungs das Foto von den Panzern zu zeigen, das in der Bude steht. Plötzlich steht ein dicker Mann mit rotem Kopf und zurückgegeltem Haar ganz dicht vor mir.

Es ist wie ein Startschuss, die Dynamik der Situation ist offensichtlich: In dem Moment, in dem Leute sehen, wie jemand mit dem Grenzer ein Foto macht, bewegen auch sie sich auf ihn zu. Plötzlich möchten auch eine Frau und ihr Sohn ein Foto mit dem Mann in der DDR-Uniform.

„Bist du Ben?“

„Ähm, ja.“

„Du hast dich letzte Woche beworben, oder?“

„Ja, bist du Samuel?“

„Und was machst du jetzt hier?“

„Ich steh nur hier. Ich nehm kein Geld dafür.“

Der Balkon des McDonald’s erlaubt einen Blick auf die gesamte Situation. Der Grenzer hat den Amerikanern nichts entgegenzusetzen. Da ist zum einen die zahlenmäßige Überlegenheit. Der Grenzer ist alleine, die GIs sind zu viert. Außerdem sind die GIs materialtechnisch im Vorteil: Sie haben Requisiten für die Leute, mit denen sie Fotos machen. Und sie haben eine Kulisse, Fahnen und Sandsäcke. Der Grenzer steht alleine da, ohne Fahne, und eigentlich trägt er sogar die falsche Mütze.

„Das macht nichts. Du kannst hier nicht stehen und einen auf Reiseführer machen. Die haben mich sofort angerufen. Wir haben hier eine Genehmigung seit 2003.“

■ Ich bin 27 und momentan Hospitant bei tazzwei. Trotz geringer Bezahlung arbeite ich ressortübergreifend und auch an Samstagen: Es geht ja schließlich um die Sache. Ich empfand den Checkpoint Charlie vor allem als kalt und grau, finde es aber toll, dass sich so viele Menschen, aus so vielen Ländern, für die deutsche Geschichte interessieren. Dank der Geschichte über den Checkpoint Charlie war ich zum ersten Mal seit Langem wieder bei McDonald’s. Es schmeckte nach Freiheit.

„Entschuldigung. Ich wollte es nur mal ausprobieren. Wie heißt die Firma?“

„Kannst du nachgucken. Steht überall im Internet. Aber du kannst nicht hier stehen. Wir haben hier eine Genehmigung. Geh zum Brandenburger Tor oder wo auch immer. Tu mir den Gefallen.“

Es ist ein witziges Bild. Auf der einen Seite die GIs vor einer großen Menschengruppe, offensichtlich das Zentrum des Geschehens am Checkpoint Charlie. Und auf der anderen Seite steht alleine, ein bisschen wie ein Verrückter, der Grenzer. Es hat etwas von: „Hey, ich bin auch noch hier.“ Immer wieder machen Leute ein Foto mit dem Grenzer, manch einer verwickelt ihn in ein Gespräch.

Die Teenager, deren sicher sehr informative Geschichtsstunde unterbrochen wurde, gucken mitleidig und tun so, als ob es nun spannend werden würde. „Feierabend, was?“ sagt einer.

„Ja.“ Etwas ratlos und traurig packe ich meine sowjetische Mütze in meine Plastiktüte. Als die Jungs weg sind, kommt plötzlich Samuel wieder.

„Wann hast du frei?“, fragt er.

„Ich hab meistens frei“, antworte ich.

„Und wohnste in der Nähe? Oder hast du’n weiten Weg?“

„Nein, ich wohn in Kreuzberg“, sage ich und gebe ihm meine Handynummer.

„Okay, ich melde mich“, sagt Samuel.