„Es gibt keinen neuen Kalten Krieg“

Die USA werden in Polen und Tschechien Raketenabwehrschirme stationieren. Putin protestiert – um so Punkte im Machtspiel zwischen Moskau und Washington zu sammeln, so die polnische Militärexpertin Maria Wagrowska

MARIA WAGROWSKA arbeitet als Militärexpertin am Zentrum für Internationale Beziehungen (CSM) in Warschau und ist stellvertretende Vorsitzende der Euroatlantischen Gesellschaft. Sie war lange Chefredakteurin der Fachzeitschrift „Polnische Streitkräfte“ und davor diplomatische Korrespondentin der Zeitung Rzeczpospolita in Brüssel. Sie ist Autorin zahlreicher Artikel zu den Themen Sicherheitspolitik, Nato und EU.

taz: Frau Wagrowska, warum will Polen das US-Raketenabwehrsystem haben? Erhöht es die Sicherheit Polens?

Maria Wagrowska: Die polnische Regierung ist überzeugt, dass das Land durch den Antiraketenschild sicherer wird. Denn jeder Angriff auf Polen käme einer Quasikriegserklärung an die USA gleich. Die USA würden nicht nur ihr in Polen stationiertes Antiraketensystem verteidigen, sondern ganz Polen. Zum zweiten hofft die polnische Regierung, für das Ja zum Raketenschild von den Amerikanern kostenlose Patriot-Raketen oder Raketen der späteren Generation THAAD zu erhalten.

Hätte Polen auf der geplanten US-Militärbasis überhaupt etwas zu sagen?

Die Militärbasis hätte einen exterritorialen Status in Polen. Daher muss sich die polnische Regierung genau überlegen, ob sie auf dem eigenen Boden diese totale Entscheidungshoheit der Amerikaner akzeptieren kann und will. Denn die Entscheidung, ob Raketen abgeschossen werden oder nicht, liegt bei den USA.

Warum hat Wladimir Putin auf der Sicherheitskonferenz in München die geplante Stationierung des Antiraketenschirms in Polen und Tschechien so scharf kritisiert?

Ich denke, dass die Russen – egal ob dies nun Putin oder ein anderer Präsident seit 1991 ist – immer zwei Aspekte im Auge haben. Zum einen wollen sie jede Nato-Erweiterung um Staaten verhindern, die einmal zur russischen oder sowjetischen Einflusszone gehörten. Zum zweiten versuchen russische Politiker stets, die Nato-Verbündeten untereinander zu entzweien und Zwist zu säen zwischen den USA, Kanada und Europa.

Könnte es nicht sein, dass die Russen sich wirklich vor dem Antiraketenschirm fürchten?

Das halte ich für wenig wahrscheinlich. Es geht Russland eher darum, die alten Einflussphären zumindest zum Teil wiederzugewinnen. Moskau hat sich lange gegen die Souveränität der baltischen Republiken gesträubt. Es kämpft um seinen Einfluss in Weißrussland und der Ukraine, setzt seine Gas- und Öllieferungen als Waffe ein und hat damit auch einen gewissen Erfolg. Den heißen Kampf um den Kaukasus brauche ich wohl nicht zu erwähnen. Auf diese Art kehrt das geostrategische Denken aus dem Kalten Krieg zurück, das wir Anfang der 90er-Jahre schon für überwunden hielten.

Müssen wir uns auf einen neuen Kalten Krieg einstellen?

Nein. Russland will ja seine Zusammenarbeit mit dem Westen nicht aufgeben, es will nur größeren Einfluss gewinnen.

Manche meinen, dass die Russen vor allem das neue Radarsystem fürchten – denn damit könnten die USA jede militärische Bewegungen in Russland aufs genaueste kontrollieren. Ist dies ein Schlüssel, um Putins Auftritt in München zu verstehen?

Hier sind die Meinungen geteilt. Dies könnte eine Rolle im strategischen Denken Russlands spielen. Sicher ist das allerdings nicht. Dass wir diese Frage nicht eindeutig beantworten können, ist aber auch ein Indiz für die Unterlegenheit europäischer Staaten gegenüber der US-Militärmacht und ihrem technologischen Vorsprung.

Moskau drohte ja bereits damit, dass es an seinen Grenzen neue Kurz- und Mittelstreckenraketen stationieren wird, wenn in Polen und Tschechien tatsächlich der Antiraketenschirm entstehen sollte. Wie ernst ist das zu nehmen?

Kurzfristig gesehen ist das keine ernstzunehmende Gefahr, weil Moskau dafür rund fünf Jahre bräuchte. Gefährlicher ist, dass Russland droht, kleine Weltraumvehikel zu bauen, die in der Lage sein werden, Raketen zu durchschlagen. Gefährlich sind auch die russischen Langstreckenraketen vom Typ Topol. Natürlich gibt es amerikanisch-russische Abkommen darüber, dass die Zielprogrammierung von Langstreckenraketen weder Russland noch die USA beinhalten werden. Das aber kann man ändern. Russland setzt diese Argumente ein, spielt also sehr hoch.

Mit welchem konkreten Ziel?

Meiner Ansicht nach geht es im derzeitigen russisch-amerikanischen Schlagabtausch darum, einen neuen Modus vivendi zu finden, der zwar die Rolle der USA als einzige und globale Supermacht festschreiben wird, es aber auch Russland ermöglicht, das Gesicht zu wahren. Ich erinnere nur daran, dass die USA im Jahre 2002 den ABM-Vertrag von 1972 einseitig aufkündigten. Es geht jetzt darum, ein neues Gleichgewicht zu finden. Psychologisch gesehen müssen beide Seiten möglichst überzeugende Gefahrenpotenziale aufbauen, um das Optimale für sich in diesen Verhandlungen herauszuholen.

Worauf will man sich nun einigen? Abrüstung steht wohl nicht auf der Tagesordnung.

Nein, eher Transparenz. Es geht um eine intensivierte Zusammenarbeit zwischen den USA und Russland. Dafür gibt es zahlreiche Indizien. So war Sergei Iwanow, bis vor kurzem Verteidigungsminister Russlands, Ende August letzten Jahres nicht nur in Washington, sondern auch in Alaska, wo ja bereits ein Element des Antiraketenschirms steht. Robert Gates, der neue US-Verteidigungsminister, fährt nach Moskau – trotz München, trotz Putin.

Der deutsche Außenminister Steinmeier sagt, dass die USA mit Moskau reden sollten, bevor sie den Antiraketenschirm in Polen und Tschechien installieren. Kann es sein, dass er von den Gesprächen nichts weiß?

Das kann ich mir kaum vorstellen. Als Expertin für Sicherheitspolitik gehe ich davon aus, dass dies eine rein politische Äußerung war. Es ist ein politisches Spiel. Jeder hat seine Rolle. Die Deutschen spielen darin eine prorussische Karte.

Die Deutschen halten die Russen also bei Laune?

So könnte man es ausdrücken. Die Russen sind ja nicht grundsätzlich gegen den Raketenabwehrschild. Sie selbst haben der EU angeboten, einen Raketenabwehrschild für sie zu bauen. Die EU könne sich gewissermaßen als Subsystem an das russische System anklinken.

Ist das gut oder schlecht?

Weder noch. Das ist ein politisches Spiel.

Spiel bedeutet – es ist nicht real?

Wieso sollte das nicht real sein? Theoretisch ist in der Zukunft alles möglich und real.

Wieso streiten sich alle, wenn doch eigentlich die USA, die Nato und die EU sowie Russland an einem Strang ziehen?

Zum einen ist die Nato in einer schweren Krise, zum anderen ist nicht klar, wer der Gegner der Zukunft sein wird. Ich befürchte, wir denken hier in Europa viel zu eurozentristisch. Wir werden bald mit einer dritten Großmacht zu tun haben. Das ist China. Im strategischen Denken der USA spielt China eine zentrale Rolle. Genauer: Russland und China. Auch der Raketenabwehrschild richtet sich gegen Raketen, die es zurzeit noch gar nicht gibt. Es ist ein reines Zukunftsprojekt. Science-Fiction. Vielleicht wird es niemals ballistische Raketen mit einer Reichweite von 4.000 bis 5.000 Kilometer geben.

Es klingt immer absurder …

Das ist aber die Wahrheit. Ich lese alles, was zu diesem Thema publiziert wird, und je mehr ich lese, um so klarer tritt neben dem politischen und militärischen Aspekt der technologische hervor. Für die die USA geht es darum, sich den technologischen Vorsprung für die Konkurrenz der Zukunft zu sichern.

INTERVIEW: GABRIELE LESSER