Wandern auf dem Meeresgrund

WATT LOS Wie man sich richtig auf eine Wattwanderung hätte vorbereiten sollen, hat unsere Autorin im Schlick zwischen Cuxhaven und Neuwerk schmerzlich am eigenen Leib erfahren. Am Schluss war sie so aufgeweicht, dass sie sich per Traktor mitretten lassen hat

Timos Lippen sind blau und er schlottert. „Wir schaffen das“, sagt Marie aus ihrer zu großen Regenjacke

AUS DEM WATT ANNA WATTLER

7 Uhr, Hamburg Hauptbahnhof

Anzugträger eilen ins Büro, Nachteulen wandeln gen Bett, andere wollen ins Watt. Die erkennt man sofort.

Gleich im Zug nach Cuxhaven enttarne ich einen etwa Fünfzig-jährigen als professionellen Wattwanderer: Er trägt schnell trocknende und atmungsaktive Multifunktionskleidung. Eine Hose mit abtrennbaren Beinen, Kopfbedeckung und Sonnenbrille wappnen für jedes Wetter. In einem wasserfesten Rucksack transportiert er Ausgabe Nummer zwei seines Outfits. Die Füße hat er in Wattwanderschuhe gezwängt. Das sind farbenfrohe Plastiksandalen, die zwar modisch fragwürdig, an steinigen Stränden aber hilfreich sein können. Mir entlocken sie ein spöttisches Schmunzeln. Noch.

Gemessen an ihm fühle ich mich wie ein Amateur. Auf mein Vorhaben lässt lediglich die sportlich übergeworfene Regenjacke schließen, die ihre Funktionstüchtigkeit zuletzt im Pfadfinder-Zeltlager beweisen musste. Gummistiefel wird man ja wohl vor Ort leihen können. Wechselkleidung habe ich natürlich dabei. In einem Rucksack verstaut. Wasserfest ist der nicht.

9.30 Uhr, Sahlenburger Strand, Cuxhaven

„Wir haben vier Stunden, bis die Flut wiederkommt. Also los!“, ruft Wattführer Marcus Paffrath. Er führt heute eine Grundschulklasse die zehn Kilometer von Cuxhaven auf die Insel Neuwerk. Die Sonne scheint und die Kinder quietschen vergnügt. „Meint ihr, ihr findet ein Strandkrabben-Mädchen?“, fordert Paffrath sie heraus. Mit einem Augenzwinkern murmelt er: „Jetzt sind sie erstmal beschäftigt.“

Während die Kinder Wattwürmer, Krabben und Muscheln entdecken, ziehen ganze Karawanen von Wattwanderern vorbei. „Heute ist nicht viel los“, meint Paffrath. „An manchen Sommertagen wollen hier bis zu 1.200 Leute rüber!“ An diesem Tag sind an die zehn Wandertrupps unterwegs: Seniorengruppen, Betriebsausflüge und Junggesellenabschiede – alle pilgern sie auf dem Meeresgrund zur Insel Neuwerk, verwaltungstechnisch ein Hamburger Stadtteil, aber in der Elbmündung gelegen. Noch umschiffe ich Pfützen behutsam. Noch sind die Füße trocken.

Dann der erste Priel: „Alle mal die Hosen hochkrempeln und an den Händen nehmen!“, weist Paffrath an. Kalt ist das Wasser nicht. Nur nass. Ihm geht es bis zum Knie, den Kindern bis zum Bauch. Alle Hoffnungen trocken zu bleiben sind ertränkt. Die vollgesogenen Turnschuhe machen rhythmisch „Pflatsch“ in die Weite des Watts. Den einsetzenden Regen merke ich auf der nassen Kleidung kaum noch.

„Wie weit ist es noch?“, fragt Merle. Ihr Neid erfüllter Blick folgt einer Kutsche, die in Decken gewickelte Fahrgäste über den Pritschenweg nach Neuwerk befördert. Das Klappern der Hufe hallt noch übers Watt, als der aufziehende Nebel die Pferde verschluckt. Der Regen wird stärker. Timo hat seine Hose schon beim ersten Priel in Salzwasser getränkt. Sein dünnes Hemdchen flattert nass an seinem Körper. Die Lippen sind blau und er schlottert. Auch Marie trägt nur noch ihre zu große Regenjacke. „Wir schaffen das“, spricht sie Timo Mut zu und fasst ihn bei der Hand. Immer wieder versinken sie bis über die Knöchel im Watt.

„Wenn man sich hier nicht auskennt, kann es ganz schön gefährlich werden“, sagt Paffrath. Für den Notfall gibt es Rettungstürme: „Dort gibt es ein Erste-Hilfe-Paket mit Keksen, Wasser und Verbandszeug.“ Die Versuchung steht nicht nur den Kindern ins Gesicht geschrieben. Doch Paffrath wendet ein: „Das wird alles vom Ufer überwacht. Wenn man ohne Grund hochklettert, kann es teuer werden.“

Die tropfenden Nasen zum Boden gerichtet, bemerkt niemand den Traktor am Horizont. Erst als Werner Fock vor der Gruppe zum Stehen kommt, schauen die Kinder sich überrascht an. „Ich habe gehört, hier müssen ein paar Kinder gerettet werden?“ Wattführer Paffrath hatte um Hilfe gefunkt.

14 Uhr, Altes Fischerhaus, Neuwerk

Eine halbe Stunde später gibt es Mittagessen im Alten Fischerhaus. Vor der Tür dampfen durchnässte und sandige Turnschuhe. „Den Gestank kriegste nich’ mehr raus“, meint eine erfahrene Wattwanderin. Sie betrachtet mitleidig meine nackten, schrumpeligen Füße. Selbst sieht sie so aus, als wäre sie durch einen Tunnel von Cuxhaven nach Neuwerk gelangt.

„Die Leute bereiten sich oft nicht richtig vor“, sagt Karsten Bronk, Inhaber der Touren-Gesellschaft Wunderwelt Watt. „Die meisten denken, man braucht Gummistiefel. Das ist Blödsinn. Spätestens beim Durchwaten des ersten Priels laufen die mit Wasser voll.“ Sein Tipp: „Am besten sind Wattwanderschuhe oder dicke Socken gegen die scharfkantigen Muscheln.“ Bronk war mit sieben Jahren zum ersten Mal im Watt: „Ich wusste gleich, dass ich hier draußen zu Hause bin.“ Was ihn fasziniert? „Die Weite. Und die Vorstellung, auf dem Meeresgrund zu laufen.“

Inzwischen hat die Sonne die Regenwolken weggebrannt. Die Touristen kommen aus ihren Verstecken in den Cafés und Restaurants hervor, die die insgesamt 36 Insulaner betreiben. Wo bei Ebbe noch Kutschen und Traktoren über den festen Sandboden gerollt sind, legt nun die MS Flipper an. Das Ausflugsboot empfängt die Wanderer mit Kaffee, Kuchen, Erbsensuppe und Bier und verschifft sie sicher wieder aufs Festland. Nichts erinnert mehr an den nassen Vormittag. Bis auf die Turnschuhe.

Buchen kann man die Tour über www.regiomaris.de. Im Ticketpreis von 69 Euro sind Zugfahrt, Mittagessen und die Rückfahrt per Schiff enthalten. Wichtig: Hinweise zu Wattwanderungen genau durchlesen!