Baum gegen Stahl

ENDSPIEL In der Neuen Nationalgalerie ist ein Naturereignis der besonderen Art zu bestaunen. Der britische Architekt David Chipperfield hat 144 geschälte, raumhohe Baumstämme ins Foyer gestellt. Er wird das Haus auch sanieren und renovieren

Das Ganze ist kitschig, aber auch erzählerisch, irgendwie anziehend

Die Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe ist zu einer Art Schaufenster der Berliner Kulturszene geworden. Seit Udo Kittelmann und sein Team für die Institution verantwortlich sind, passiert immer wieder etwas Unerwartetes, etwas, das sich dem üblichen Kulturbetrieb entzieht, das auch nachts sichtbar und erlebbar ist, das zu Massenaufläufen und Straßenparties außerhalb der regulären Öffnungszeiten führt, wie zuletzt bei Otto Piene.

Derzeit ist nun ein Naturereignis zu bestaunen, das wie ein Bild von Anselm Kiefer in 3-D wirkt: 144 geschälte, raumhohe Baumstämme sind rasterkonform zum stützenfreien Innenraum aufgestellt und stören die Größe und Ruhe des Raums.

Diese Scheinstützen sind mit dicken Schrauben an der Decke angebracht, womit der Bezug zu den acht Stützen im Außenbereich, die die massive Dachkonstruktion tragen, aufgenommen wird. Diese Dekoration hat zwar nichts mit dem technischen Wunderwerk des Baus zu tun, fasziniert aber doch. Am Boden sind die schlanken Baumstämme mit Holzplatten gefestigt, die wie kleine Podeste wirken.

Das Ganze ist kitschig, aber auch erzählerisch, irgendwie anziehend, aber doch nicht dem Bau entsprechend. In jedem Fall eigenartig handelt es sich um eine ganz neue Raumerfahrung im coolen Tempel der Moderne, an dem sich die zeitgenössischen Architekten so gerne messen, damit etwas vom Glanz der Mies’schen Genialität auf sie abfallen möge. Doch diese Mal ist die Reibung ganz konkret: Das Chipperfield-Büro grundsaniert den maroden Bau der Neuen Nationalgalerie; originalgetreu, versteht sich. Das 1965–68 nach Plänen von Mies erbaute Haus wird voraussichtlich auf fünf Jahre geschlossen.

Daher nun diese theatralische, publikumswirksame Geste als Auftakt der Schließung: Natur versus Stahl und Glas, haptisches Material gegen glatte, dunkle Flächen. „Sticks and Stones – eine Intervention“ heißt die Inszenierung im Glasbau und ist von einem englischen Kinderreim inspiriert.

„Sticks and Stones may hurt my bones, but words will never hurt me“ (Stock und Stein brechen mein Gebein, doch Worte bringen keine Pein) lautet der Merksatz, den David Chipperfield und seine Mitarbeiter als Grundlage für ihren Kommentar zum ikonischen Museumsbau genommen haben und mit dem sie die BesucherInnen auffordern, ihre Fantasie dazu spielen zu lassen.

Mich erinnert das an die Baumstämme, auf denen Venedig steht und wofür die nordadriatischen Inseln abgeholzt wurden – das erste flächendeckende ökologische Desaster in Europa.

Wenn in Berlin Bäume gefällt werden, braucht man solches nicht zu befürchten. Aber was passiert eigentlich mit den Baumstämmen nach Ende der Kunstaktion? Sie würden, sagt das Büro Chipperfield ihrer „vorgesehenen forstwirtschaftlichen Verwendung zugeführt“. Aber vielleicht sind sie durch das Verweilen im Museum dann schon zu wertvoll geworden, um zum schlichten Festmeterpreis verkauft zu werden?

Das könnte noch zu Diskussionen führen. Aktuell finden sie erst einmal nur im Rahmen des „Kolloquiums zur Grundinstandsetzung der Neuen Nationalgalerie“ statt. Unter dem Motto „Form versus Function: Mies und das Museum“ werden Fachleute, wieder einmal, die Bedeutung des Baus untersuchen. Der interdisziplinäre Diskurs soll in der Mitte des Raums stattfinden, wo eine 200 Quadratmeter große Lichtung belassen wurde, wie das in Wäldern manchmal so vorkommt: Sie dient auch hier der Erleuchtung. RENATA STIH

■ bis 31. Dezember; Infos zum Festival of Future Now und zum Kolloquium: www.davidchipperfieldinberlin.de