AUSGEHEN UND RUMSTEHEN VON RENÉ HAMANNDIE PROVINZ IST NUR EINE BUSFAHRT ENTFERNT
: Wo ist das Fußballtor?

VON RENÉ HAMANN

AUSGEHEN UND RUMSTEHEN

Eigentlich schön, wenn es regnet. Wenn es regnet, muss man nämlich nicht hinausgehen, um irgendetwas zu erleben. Man muss nicht wie tausend andere irgendwelche ausgehöhlten Läden und Wohnungen anschauen gehen, die jetzt eine Menge Off-Kunst und Off-Musik anbieten, wie das bei „48 Stunden Neukölln“ geschieht. Man muss auch nicht zum Gorki oder zur Akademie der Künste, um Vorträgen lyrischer Natur beim Poesiefestival zu lauschen. Und man muss sich auch nicht an Bord eines Ausflugsschiffs begeben, um sich eine Stunde lang Gedichte während der Fahrt auf dem Landwehrkanal anzuhören.

Poesie gab es so nämlich auch. Tatsächlich führte mich die Poesie am Freitagnachmittag nach Marienfelde und am Samstag in den Wedding, denn ich war geladen, als Juror bei Schreibwettbewerben von Schülerinnen und Schülern Berliner Grund- und Sekundarschulen zu fungieren.

In Marienfelde bin ich vorher noch nie gewesen. Es ist ein provinzielles Teilstück des großen Puzzles, das diese Stadt darstellt. Es liegt irgendwo am südlichen Rand unserer kleinen Stadtkugel, die lange Zeit eine Scheibe gewesen war. Kurz hinter Marienfelde drohte man nämlich von dieser Scheibe zu fallen. Vielleicht ist das immer noch so; das habe ich nicht nachgeprüft.

Das Provinzielle an Marienfelde macht sich durch folgende Eigenheiten bemerkbar: Es liegt etwas eingezwängt zwischen mehreren Ein- und Ausfallstraßen. Weist entlang dieser Straßen auch die typische westdeutsche Nachkriegsarchitektur auf, die die üblichen sozialen Probleme mit sich bringt. Was Marienfelde aber auch hat, sind neubürgerliche Neubauviertel, in denen sogar die türkischstämmige Mittelschicht ihren Fluchtpunkt findet. Und eben einen altpreußischen, höchst pittoresken, dörflichen Kern. So mit Kirche und Kopfsteinallee und schattigem Dorfplatz, auf dem dann auch gleich irgendeine Feierlichkeit begangen wird. Achtzig Jahre dies, einhundertfünfzig Jahre das, keine Ahnung. Off-Kunst der kleinbürgerlichen Art inklusive.

Was Marienfelde aber auch hat: ein „Café Sitcom“, das von der Ausstattung her leider nicht ganz hält, was es verspricht, dafür aber gutes Eis und guten Milchkaffee feilbietet. Eine Bäckerei, die das überfällige Comeback der allseits beliebten „Brottestkarte“ ankündigt („Wieder da: die Brottestkarte!“). Den Fußballverein „FC Stern“ mit torlosem Platz (geklaut? Sicher gestellt wegen Sommerpause?), aber sechszackigem Stern im Wappen. Und in Schussweite von Verein und Kirche das Bundesinstitut für Risikobewertung.

Was sollen da also noch Reisen an den entlegenen Niederrhein oder in die Uckermark? Provinz ist nur einen Bus weit weg. Das gilt auch für den Wedding – hier kann man sehen, wie sich Sozialdemokraten einmal Verkehrsberuhigung gedacht haben (die Verlängerung der Ackerstraße, die hier im Grunde „derridaid in sich selbst verschwindet“, um mal den großen Diedrich Diederichsen zu zitieren) und wie Problembezirk und Elitebezirk mühsam zueinanderfinden, nämlich am besten auf einem Kiezfest. Schulkinder lesen im Speisesaal der Seniorenresidenz respektive dem „Domizil“ ihre Texte vor – übrigens durchaus beachtlich, da braucht es gar kein Poesiefestival mehr –, während draußen auf der Haupttribüne eine Provinzrockband die Zeit zwischen Off-Theater und Tombola mit provinzieller Rock- und Rollstuhlmusik füllt. Und eine Kirche gibt es auch! Sogar eine katholische. Und eine Hochzeit fand dann auch noch statt, und wenn ich richtig gesehen habe, war es sogar eine, die die Integration unterstützt.

Allerdings setzte in dem Moment dann auch der Regen ein. Aber Regen, habe ich mir gleich erklären lassen, bringt Segen. Im Falle des Brautpaars sogar Geld.