Zu Besuch im Land der Täter

TOURISTEN Berlin ist bei Israelis beliebt wie nie. Das Interesse schwankt zwischen der Suche nach den Spuren des Holocaust und den neuen Freiheiten einer weltoffenen Metropole, sagt Stadtführerin Sharon. Ein Rundgang

„Ich möchte zeigen, dass Berlin mehr zu bieten hat als NS-Geschichte“

SHARON, DIE STADTFÜHRUNGEN AUF HEBRÄISCH ANBIETET

VON GIL SHOHAT

Ein Freitag im September, kurz vor 10 Uhr am Bahnhof Zoo: Überall ist Hebräisch zu hören. Es herrscht Gedränge und Hektik. Um die 50 Israelis stehen in einem Pulk vor einem Schnellrestaurant. Das Wetter erinnert daran, dass man sich nicht in einem Bahnhof in Israel befindet – die Bewölkung ist dicht, es regnet leicht. Nichtsdestotrotz wollen die Touristen mit einer Stadtführung das „Beste von Berlin“ an einem Tag erleben. Auch für Israelis ist die deutsche Hauptstadt mittlerweile eines der beliebtesten Reiseziele. Später werden es insgesamt etwa 90 Israelis sein, die auf drei Gruppen aufgeteilt werden und Berlins Sehenswürdigkeiten auf Hebräisch vorgestellt bekommen.

Yonah (73), sportlich-leger gekleidet, ist zum zweiten Mal in Berlin. Der ursprünglich aus Osteuropa stammende Rentner hat sich, wie sich im Verlauf der Tour herausstellen wird, intensiv mit der NS-Zeit und ihren Konsequenzen beschäftigt. Für ihn bedeutet das, hier „den rechten Flügel aus Israel zu vertreten“. Es gibt auch heutzutage noch Israelis, vor allem in der älteren Generation, die einen Besuch im „Land der Täter“ kategorisch ablehnen. Diejenigen, die dennoch hierherkommen, sind häufig hin- und hergerissen zwischen der Suche nach den Spuren der Zerstörung der Juden sowie denen des Neuaufbaus.

Es gibt aber auch israelische Touristen, für die die NS-Zeit schon lange zurückliegt und die Berlin als Freiheitsversprechen begreifen. Dazu gehört die Endzwanzigerin Moran. Die Sachbearbeiterin, ganz in Schwarz gekleidet und orientalischen Ursprungs, fragt schon zu Beginn der Tour bei der Reiseführerin Sharon nach den besten Einkaufsmöglichkeiten und den angesagtesten Bars. Dennoch ist der Großteil derjenigen, die eine solche Führung buchen, eher in die erste Kategorie einzuordnen.

„Die meisten sind auf der Suche nach dem Berlin der Nazi-Zeit und dem jüdischen Leben in Berlin“, sagt Sharon, die Reiseführerin. Doch wer ausschließlich darauf setzt, hat bei der zierlichen, aber durch ihre Ausstrahlung beeindruckenden 35-Jährigen Philosophie-Studentin schlechte Karten. „Ich möchte zeigen, dass Berlin mehr zu bieten hat als ihre NS-Geschichte.“

Der gewöhnliche Berliner Touristenpfad führt von Museumsinsel und Berliner Dom über Gendarmenmarkt, Checkpoint Charlie und Finanzministerium bis zum Holocaustmahmnal und Brandenburger Tor. Die Stadtgeschichte Berlins soll von ihren Anfängen bis zur Gegenwart widergespiegelt werden. Also Karl Friedrich Schinkel: Mit diesem Namen werden die Touristen auf der Museumsinsel konfrontiert. Fast alle in der Gruppe hören diesen Namen zum ersten Mal.

Auch Moran macht erstmals Bekanntschaft mit klassisch-preußischer Architektur. Jedoch kreisen ihre Gespräche schnell um etwas, das weit jenseits der Museumsinsel liegt. Denn der Hauptgrund ihres Besuchs war „Folsom“, ein schwul-lesbisches Festival mit Straßenfest und vielen Partys für die Leder- und Fetischszene aus aller Welt – es findet immer im September in Schöneberg statt. Deshalb ist Berlin für Moran ein Freiheitsversprechen. „In keiner Stadt kann man so frei leben wie hier“, ist sie überzeugt. Doch bevor die Freiheit gefeiert werden kann, erläutert Sharon die Geschichte der Unfreiheit, für die Berlin in ihrer Vergangenheit stand.

Die Teilnehmer passieren die Humboldt-Universität und halten am Bebelplatz am Denkmal zur Bücherverbrennung am 10. Mai 1933. Ein Zimmer im Untergrund – vier Wände, durchzogen von leeren weißen Regalen, schlicht und beklemmend. So soll der Verlust an Schriften und Kultur dokumentiert werden. Eine Tourteilnehmerin um die 60 ist misstrauisch. „Wieso ist das Denkmal unter der Erde? Wollen die Deutschen etwas verheimlichen?“, fragt sie. Sharon hält mit der symbolischen Bedeutung der Konzeption dagegen und betont, dass der Künstler Micha Ullmann Isreali ist.

Nach der Besichtigung des Gendarmenmarktes ist Mittagspause. Der Großteil der Gruppe kehrt in eine Kaffeebar in der Nähe vom Checkpoint Charlie zu Gebäck oder belegtem Bagel ein. Die meisten brauchen einen Kaffee, um ihre Sinne für die zweite Tourhälfte zu schärfen.

Nach der kleinen Stärkung kann Sharon auf eines ihrer Lieblingsthemen zurückkommen, der deutschen Teilung mitten in Berlin. Als sie mithilfe einer Landkarte die hohen Flüchtlingszahlen von Ost- nach Westdeutschland erläutert, kommt die Frage auf, wie die BRD das eigentlich stemmen konnte. Yonah setzt zu einem Vergleich an: Israel habe es nach seiner Staatsgründung 1948 ebenfalls geschafft, die vielen einwandernden Juden aufzunehmen.

In diesem Moment gehen bei Sharon die Alarmglocken an: „Über Israel reden wir hier nicht“, erstickt sie jede Diskussion über das Heimatland, „das führt nur zu Problemen und Streit.“ Es entspricht der Linie der Tourveranstalter, das Thema Israel auszuklammern. Zu brisant ist die Situation, zu unterschiedlich die Ansichten, wie man auch an Yonah und Moran sieht.

Auch Sharon denkt anders über die politische Lage als der israelische Mainstream. „Würde ich meine Position vertreten, würde es zu einem Streit kommen und die Leute würden mir nicht mehr zuhören.“ So ganz hat Sharon sich jedoch selbst nicht daran gehalten, kündigte sie doch im Laufe der Tour an, den israelisch-palästinensischen Konflikt lösen zu wollen. Ganz ernst genommen wurde sie damit von den Teilnehmern aber nicht.

Sharon führt die Tour zum Checkpoint Charlie. In diesem „touristischen Disneyland“, wie sie es nennt, fühlt sie sich sichtlich unwohl.

Als wir entlang der Vielzahl von Döner- und Currywurstbuden spazieren, erzählt Yonah, wieso er trotz seiner Ambivalenz gegenüber Berlin die Stadt bereits zum zweiten Mal besucht. Da ist die Weltläufigkeit dieser Stadt, in der alle eine Heimat finden können. „Berlin hat sich zu einer echten Metropole entwickelt. Wenn man bedenkt, wie es nach der Wende hier aussah, ist das schon eine tolle Entwicklung“, zeigt er sich beeindruckt. Doch die Offenheit habe auch ihre Schattenseiten. „Europa und vor allem Berlin müssen vor einer Islamisierung aufpassen. Ich muss deshalb auch hier immer sehr achtsam sein“, setzt er seiner Toleranz Grenzen. Sein Land sei dabei ein Bollwerk gegen diese Gefahr.

Im Gegensatz zu Yonah hat Moran wegen der muslimischen Bevölkerung in Deutschland keine Bedenken. Für sie ist es selbstverständlich, sich als Israelin und Jüdin zu erkennen zu geben. „Hier ist es einfach nicht wichtig, wo du herkommst.“ Sie erzählt von ihrem ehemaligen Wohnhaus in New York, dort hat Moran ein paar Jahre gelebt. „Dort waren die Hälfte der Bewohner Juden und die andere Hälfte Muslime.“ Man habe ein lebendiges Miteinander zelebriert und zusammen Feste gefeiert. Sie ist überzeugt davon, dass Juden und Muslime „überall in Frieden leben können – außer in Israel“.

Entlang der Zimmerstraße geht es zum Finanzministerium. Während die Gruppe die ausgestellten Trabbis bewundert, äußert Yonah sein Unbehagen darüber, dass immer mehr Israelis nach Berlin auswandern. „Einerseits ist Deutschland der Ort, in dem man uns für immer vernichten wollte. Andererseits sind die Juden ein sehr widerstandsfähiges Volk, die alle möglichen Feindseligkeiten ausgehalten haben, wie auch die heutige Zeit zeigt.“ Für Moran ist Berlin gerade wegen ihrer belasteten Geschichte so attraktiv. In ihrer Jugend sei sie mit der NS-Geschichte zugeschüttet worden. Hier fänden sie und ihre Freundinnen die Befreiung von der Last der Geschichte. Beispielsweise auf dem Folsom-Festival. Moran würde am liebsten hierhin ziehen. „Was soll ich noch in Israel?“, fragt sie sich. Sie schwärmt davon, dass man in Deutschland umsonst bis zum Master studieren könne. In ihrer Heimat konnte sie sich nie ein Studium leisten, da es so teuer sei. „Außer du bist ein jüdischer Einwanderer“, entgegnet die Reiseführerin. Denn für Juden, die nach Israel emigrieren, ist das Studium bis zum Alter von 30 Jahren kostenlos.

Es ist bereits 15.30 Uhr, die Tour erreicht ihre letzten Etappen. Sharon zeigt der Gruppe das chinesische Restaurant, das zum Erstaunen der Gruppe als Teil eines Häuserblocks anstelle der ehemaligen Neuen Reichskanzlei steht. Nach einem kurzen Halt auf dem tristen Parkplatz, unter dem früher der sogenannte Führerbunker gelegen hat, geht es zum emotionalen Höhepunkt der Tour: das Holocaustmahnmal. Die Teilnehmer spazieren für sich durch die Reihen aus Beton. Jeder allein und gedankenverloren. Auch Yonah und seine Frau, die ansonsten streng aufeinander aufpassten, trennen sich für fünf bedrückenden Minuten. Der Spaziergang wird nicht von grölenden Menschen gestört, die auf Stelen rumhüpfen. Grimmig dreinblickende Sicherheitsleute sorgen hier seit einiger Zeit für Ruhe und Ordnung.

Die Gruppe trifft sich anschließend, um über ihre Eindrücke zu sprechen. Yonah schildert die Enge und Ausweglosigkeit, die beim Gang durch das Denkmal aufkommt. Er habe bei seinem ersten Mahnmalbesuch schon dieses Gefühl gehabt und fühlt sich nun bestätigt: Den Deutschen sei ein gutes Denkmal gelungen. Während Yonah und weitere Teilnehmer ihre Eindrücke vertiefen und Sharon über die Denkmalkultur in Berlin spricht, sitzt Moran auf einer Stele. Sie hat ihr Smartphone in der Hand und schaut sich die neuesten Meldungen auf Facebook an. Die Vergangenheit hat sie hinter sich gelassen.