Da wächst was

ÖKOREPUBLIK Von der Energiewende reden jetzt alle. Aber wer sind die Menschen, die sie umsetzen? Unser Reporter hat sich auf die Suche gemacht. Eine Deutschlandreise ins grüne Tübingen, in den Hunsrück zu einem CDU-Landrat mit Elektrotankstelle, zu den Aussteigern von Sieben Linden und zu einem Schlagersänger auf dem Weg in die postkarbone Gesellschaft

VON PETER UNFRIED
(TEXT) UND ELEONORE ROEDEL (ILLUSTRATION)

Boris Palmer stellt sein Dienst-Fahrrad vor dem „Café Latour“ ab, setzt sich in den Schatten und bestellt bei Wirt Bruno das Mittagsmenü. Blick auf eine Atomkraft-nein-danke-Fahne in einem Wohnungsfenster. Auf der anderen Straßenseite hantiert ein Mann an einem Elektrofahrrad herum.

„Hallo, Herr Baubürgermeister“, ruft Palmer.

Der Angesprochene blickt hoch, grinst, schiebt dann sein E-Bike an den Tisch und sagt: „Hallo, Herr Oberbürgermeister.“

Französisches Viertel in der baden-württembergischen Unistadt Tübingen. Fast sechzig Prozent haben in dem 2.000-Menschen-Quartier bei der Landtagswahl im März die Grünen gewählt. Seither muss es – ähnlich wie der Freiburger Stadtteil Vauban – als Projektionsfläche für eine „grüne Mehrheitsgesellschaft“ herhalten.

Ein ganz guter Ausgangspunkt also für eine Reise auf der Suche nach einem grüner werdenden Deutschland. Gibt es diese grüne Republik – und wo und wodurch wächst sie?

Baubürgermeister Cord Soehlke, 41, lebt seit dreizehn Jahren in dem Tübinger Stadtteil. Er klärt das erste Missverständnis auf: „Das ist kein Ökoviertel.“ Er blickt seinen grünen Oberbürgermeister herausfordernd an: „Wir sind attraktiv für Leute, die urban und liberal leben wollen.“

„Und dann stellt sich heraus, dass die Grünen damit gut zurechtkommen“, antwortet Boris Palmer.

„Aber nicht nur die“, sagt Soehlke. Er selbst ist parteilos und überzeugt von der Wiederentdeckung einer Stadt der kurzen Wege, die die Art, zu leben und zu arbeiten, prägt. Vereinfacht gesagt: Es werden soziale Netze gebaut statt Autostraßen. Soehlkes Frau arbeitet im Viertel – er zeigt die Aixer Straße rauf. Seine vierjährige Tochter geht hier in die Kita – er zeigt die Straße runter. Ein Auto haben die Soehlkes nicht. Wozu? Ein Großteil ihrer Freunde und die der Tochter leben im Umkreis von einem Quadratkilometer. „Und in meiner Kneipe sitzen Sie gerade.“ Es sei „leicht klaustrophobisch“, aber er finde es super. Dann fährt er mit seinem E-Bike ins Rathaus. Seinem E-Bike? „Dienstfahrrad“, brummt der OB und bestellt noch einen Kaffee.

Palmer, 38, lebte auch hier, ist aber inzwischen weggezogen. Er hat einen Ministerjob in Stuttgart ausgeschlagen, weil er als Oberbürgermeister noch nicht fertig sei. Palmers Ziel ist es, dass bis 2020 jeder Tübinger 70 Prozent weniger Energie verbraucht. Unerreichbar? Dahinter steht die These, dass es weder Land, Bund oder EU braucht, noch Ökohausmeister und auch keine absolute grüne Mehrheit, um den CO2-Ausstoß einer Kommune dramatisch zu verbessern. Die Leute müssen mitmachen, klar, aber vor allem geht es darum, die richtigen Hebel zu finden. Das ist für Palmer der Umbau der Stadtwerke zu Protagonisten der Energiewende.

Wo muss für Sie das grüne Deutschland wachsen, Herr Palmer? „Als ersten Punkt würde ich sagen: in Technologie-Unternehmen.“ Ohne technologische Lösungen werde die westliche Gesellschaft nicht etwa deutlich weniger konsumieren, sondern „die Vorräte aufessen, bis nichts mehr da ist“. Palmer scheint relativ sicher zu sein: „Die Eremitenlösung zurück in die Höhle macht niemand mit.“

Im Grunde gibt es auch bei den Grünen zwei Schulen zur Bewältigung der Krisen des 21. Jahrhunderts: die der Suffizienzler wie Reinhard Loske, der gerade als Bremer Umweltsenator abgedankt hat. Sie wollen die Menschen zu Mäßigung anhalten. Die Effizienzler wollen lieber erst mal die Maschinen verbessern. Die führenden Effizienzler sind – obwohl er selbst Suffizienz lebt – Palmer und sein Parteikollege Franz Untersteller. Der ist gerade Umweltminister in Stuttgart geworden. Er soll die Energiewende in Baden-Württemberg vollziehen. Wo das grüne Deutschland wächst? Untersteller, 51, nennt die Firmen im Land, die kaum einer kennt, obwohl sie weltweit Green Tech verkaufen. „Fahren Sie zu Ebm-papst“, sagt er.

Ebm-papst ist führender Hersteller von energieeffizienten Motoren und Ventilatoren und liegt in Hohenlohe, 100 Kilometer nördlich von Stuttgart.

Westlich der A 6 werden die Straßen schmaler, die Kurven enger, wird die Landschaft immer schöner. Vor den Häusern tauchen die ersten Gartenzwerge auf. Dann ist man am Firmensitz in der 3.500-Menschen-Gemeinde Mulfingen. Trotz Fukushima und Mappus holte die CDU hier 52 Prozent. Das Unternehmen indes wirkt, als sei es von Baden-Württembergs Grünen gemalt worden. Mittelstand, nicht an der Börse, sondern in Familienbesitz. Vor einem Jahrzehnt kam Gründer Gerhard Sturm darauf, dass energieeffiziente Produkte der große Zukunftsmarkt sind. Heute hat das Unternehmen 11.100 Mitarbeiter weltweit. Im letzten Jahr steigerte es den Jahresumsatz um 33 Prozent auf 1,3 Milliarden Euro – das Doppelte des Etats von Unterstellers Umweltministerium.

Der Chef der grünen Firma ein Linker? Aber nicht doch

Im Grunde ist die Sache simpel: Früher blies der Ventilator in der Kühlbox des Supermarktes Tag und Nacht volle Pulle, was aber keinen interessierte. Bei Ebm-papst ist er regulierbar. Das spart Unmengen von CO2 und Strom, so dass sich der deutlich höhere Einkaufspreis schnell durch dauerhafte Einsparungen auszahlt. Das ist das unschlagbare Argument auf dem Weltrettungsmarkt. Kein Controller kann ihm widerstehen.

In der Kantine gibt es an diesem Tag Linsen und Spätzle. Danach sitzt Hans-Jochen Beilke, Vorsitzender der Geschäftsführung, im Konferenzraum und erzählt, wie ihn nach dem Wahlsieg der Grünen andere Wirtschaftsführer des Landes anriefen. „Ja, Sie Linker“, sagten die. „Jetzt haben Sie Ihr Ding erreicht.“ Er habe sie dann erst mal beruhigt. „I bin koi Linker“, sagt Beilke. „Die haben gedacht, weil wir eine grüne Firma haben …“ Ein Missverständnis. „Ich habe schwarz gewählt.“

Beilke, 61, macht auch einen eher konservativen Eindruck: graue Haare, Seitenscheitel, Brille tendiert Richtung Nasenspitze. Seine Frau wählte grün, was aber nicht zu Dissonanzen führte, da Beilke schwarz-grüne Paare favorisiert. Schwarz-Grün hätte die aus seiner Sicht notwendigen Veränderungen von weniger Vorbehalten begleitet umsetzen können. Vom grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann spricht er in hohen Tönen.

Je strenger die politischen Effizienzvorgaben, desto besser für Ebm-papst. Die Zustimmung gilt aber ausdrücklich nicht Kretschmanns Leitsatz, dass „weniger Autos besser als mehr Autos“ seien. Das, sagt Beilke, sei „Quatsch“. Ebm-papst baut seine Produkte auch in Autos ein. Je mehr Autos verkauft werden, desto mehr kann Ebm-papst produzieren. Beilke sagt: „Da der Markt immer noch sehr wächst, müssen wir mitwachsen.“ Die Kunden sagten ihm: „Ihr müsst uns aus China heraus beliefern, dann kriegt ihr noch einen kräftigen Schluck aus der Pulle. Wenn ihr’s nicht macht, macht’s ein anderer.“ Die Exportquote von Ebm-papst beträgt inzwischen über 70 Prozent, Asien und vor allem China wird immer wichtiger. 1.000 Mitarbeiter hat das Unternehmen dort schon, gerade wird das dritte Werk vor Ort gebaut.

Für die Suffizienz-Vertreter ist weiteres Wachstum Wahnsinn. Die Effizienz-Revolutionäre sagen: Die Produkte würden eh produziert. Sind sie um die Hälfte energieeffizienter, spart das Energie und Kohlendioxid. Und sie sagen: Der wichtigste Punkt, um die Energiewende hinzukriegen, ist Energieeffizienz.

250 Kilometer nordwestlich von Mulfingen kommt Bertram Fleck im kurzärmligen Hemd persönlich zur Tür des Landratsamtes. War abgeschlossen; die Mitarbeiter sind alle schon im Feierabend. „Der Chef hat immer zu tun“, sagt Fleck. Wir sind in Simmern, der 8.000-Einwohner-Metropole des Rhein-Hunsrück-Kreises in Rheinland-Pfalz. Wenn man sagt, dass man noch nie hier war, winkt der Landrat ab. Kaum einer war je hier. Fleck, 62, hat graues, volles Haar, trägt Seitenscheitel, eine randlose Brille. Sein riesiger Schreibtisch ist mit Papierstapeln bedeckt. Das scheint gar nicht zu ihm zu passen. Er wirkt sehr organisiert. Na ja, er sei so viel unterwegs, sagt er. Ständig muss er Vorträge halten.

Sein Kreis produziert jetzt schon 60 Prozent der Energie, die er verbraucht, selbst und erneuerbar. Hauptsächlich mit Windanlagen. Die Mittelgebirgslage des Hunsrücks ist dafür prädestiniert. Ende des letzten Jahrhunderts war man noch bei null. Spätestens 2013 will Fleck 154 Prozent der benötigten Energie erneuerbar im Landkreis produzieren. Und damit zum Stromexporteur werden. Fleck redet nicht über drohende Klimakriege oder schmelzende Polkappen. Er hat Schaubilder, auf denen er zeigt, dass durch Stromimporte jährlich 200 Millionen Euro aus dem Kreis abflössen. „Warum das Geld Putin geben oder nach Saudi-Arabien“, pflegt er zu sagen. Dann horchten die Leute auf. Ja, warum eigentlich, wenn es nicht sein muss?

Der Rhein-Hunsrück-Kreis hat keine Großindustrie und entsprechend wenig Steuereinnahmen. Wichtigster Arbeitgeber ist der Flughafen Frankfurt-Hahn. Der Landrat setzt auf regionale Wertschöpfung durch dezentrale Produktion von Energie: 11,3 Millionen Euro werden derzeit im Kreis erwirtschaftet, deutschlandweit sind es 6,6 Milliarden Euro in den Kommunen. Da ist noch viel Luft nach oben.

Inzwischen hat der Landkreis 105 Windanlagen, bis Herbst sollen es 155 sein, 165 weitere Anlagen warten auf Genehmigung – für die der Landrat zuständig ist. Fleck behindert den Ausbau der Windenergie nicht, wie es etwa die abgewählte CDU-Regierung in Baden-Württemberg tat, er organisiert ihn. Und zwar so, dass die Bürger und Kommunen etwas abbekommen, was die Akzeptanz erheblich steigert. Die Verwaltung sei in der Pflicht, voranzugehen, sagt er. Er hat sogar eine Elektrotankstelle hingestellt – neben das Landratsamt. Noch tankt niemand. Aber keiner soll sagen können, er würde ja, aber leider gäbe es keine Tankstelle. Die Energiewende, das ist Flecks These, beschleunigen nicht Kanzlerin Angela Merkel und Umweltminister Norbert Röttgen, sondern Kommunen und Kreise. Fleck hat sich für maximale Beschleunigung entschieden. Er ist übrigens in der CDU.

Die Grünen spielten im Rhein-Hunsrück-Kreis lange keine Rolle. Bei der Landtagswahl im März gewann die CDU den Wahlkreis. Auch das ist ein Beispiel dafür, dass die Energiemoderne nicht unbedingt mit Hegemonie der grünen Partei einher gehen muss. Fleck sagt, er sei durch einen früheren Kreisvorsitzenden der CDU Rhein-Hunsrück inspiriert worden. Sein Name: Klaus Töpfer.

Wenn Leute zu Fleck kommen und sagen, die sofortige Energiewende in seinem Kreis mit 104.000 Leutchen sei ja gut und schön, aber bei über 301 Kreisen im Land quantitativ ja wohl unerheblich, sagt er ihnen, dass es ihm genau um diese 104.000 Menschen und 132 Gemeinden geht. Vor allem geht es ihm um eines: „Wir zeigen, dass es geht.“

Wer Simmern für abgelegen hält, der sollte aus dem ICE in Wolfsburg in die Regionalbahn nach Oebisfelde umsteigen, dann eine Stunde mit dem Bus durch Sachsen-Anhalt bis zu dem Flecken Poppau gurken und den letzten Kilometer an Maisfeldern vorbei zu Fuß gehen. Dann ist man in Sieben Linden, das sich „Ökodorf“ nennt. Hier leben etwa 130 Menschen auf zwei Hektar Bauland und versuchen seit 1997 – genossenschaftlich organisiert – ein basisdemokratisches, nachhaltiges Leben in Gemeinschaft zu führen, in energieeffizienten Häusern, auto- und mobiltelefonfrei, möglichst autark, vom weitgehend selbstproduzierten Solarstrom bis zum weitgehend selbstangebauten Biogemüse.

Sekte? Tagdiebe? Hippies? Weder noch

Michael Würfel, 38, wollte früher als Filmemacher in Berlin berühmt werden und viel Geld verdienen. Irgendwann wollte er nicht mehr erklären, was er schon immer fand: Dass Fliegen unsozial sei und Bio-Essen sozial. Er hatte Sieben Linden kennen gelernt, als er darüber den Dokumentarfilm „Leben unter Palmen“ gedreht hatte. Nun wollte er dort leben, wo ein Mensch im Schnitt für 2,5 Tonnen Kohlendioxid verantwortlich ist, rund ein Viertel des deutschen Durchschnitts – etwaige Flüge nicht eingerechnet. Ein Spitzenwert – immer noch zweieinhalbmal so viel wie der eines Inders.

Der Ökofaktor sei in Sieben Linden bald kein Thema mehr, sondern selbstverständlich, sagt Würfel, inklusive vegetarisch-veganer Gemeinschaftsküche. Er hat streichholzkurze Haare und redet viel. Nur vor dem Mittagessen verstummt auch er. Da bilden alle einen Kreis und schweigen. Nach einer angemessenen Zeit sagt die Köchin, was es gibt: Krautsalat, Weißkohl, Kichererbsen und Auberginen.

Die üblichen Projektionen kennen alle im Dorf: Sekte? Tagdiebe? Hippies? Die geduldige Antwort: Weder noch. Sie wollen Leute sein, die zeigen, dass man gut leben kann, wenn man radikal downsized. Sieben Linden will irgendwann um das Doppelte wachsen. Auf 250 Bewohner. Und Stadtteile wie das Französische Viertel in Tübingen? Das eine ist ein radikales Statement vom Waldrand. Das andere ist eine Veränderung im Herzen einer Stadt. Vermutlich beunruhigt daher das sanfte Modell die Leute viel mehr als das radikale.

Aber wenn Würfel einer damit kommt, dass man mit Gemüsezucht am Waldrand die Erderwärmung nicht in den Griff kriegt, hat er damit kein Problem. „Es geht mir gut, wenn ich mache, was alle machen sollten“, sagt er. Und zwar unabhängig davon, ob die anderen es auch machen. Er sagt, er könne hier weder Karriere machen noch richtig Geld verdienen und lebe dennoch „im Luxus“. Das ist etwa der Verzicht auf einen konventionellen Zehn-Stunden-Arbeitstag, der ihm erlaubt, mit seiner Freundin „auch mal einen zärtlichen Nachmittag einzuschieben“. Und das soziale Netz im Dorf ermöglicht es ihm, seine kranke Mutter hier zu pflegen.

In Sieben Linden wählt man Grüne oder Linke, wobei die einen von den Grünen noch etwas erwarten, die anderen nicht. Das größte Missverständnis besteht für Würfel darin, dass Leute denken, es handele sich um einen egozentrierten Rückzug aus der Gesellschaft. Das Gegenteil sei der Fall. Auf Individualität konditioniert, müssten die Leute lernen, Vereinbarungen zum gemeinsamen Wohl zu treffen. Ganz schön zäh. Aber darum gehe es auch im Kampf für einen erträglichen Klimawandel. Im Gegensatz zu einem urbanen Ökoquartier könne er hier direkt mitbestimmen, sagt Würfel.

Im Französischen Viertel von Tübingen ist der Oberbürgermeister längst wieder in Richtung Rathaus geradelt. Fünfzig Meter die Straße runter im „Credo“ sitzt Dieter Thomas Kuhn, Sänger der erfolgreichsten Schlager-Revival-Band Deutschlands. Der Name bezieht sich auf den früheren ZDF-„Hitparaden“-Moderator Dieter Thomas Heck. Während der aber eigentlich nur Dieter heißt, heißt Kuhn eigentlich nur Thomas.

Kuhn, 46, war Mitte der neunziger Jahre einer der Ersten, die sich hier eine Wohnung kauften. Seine Lebensgefährtin und seine sechsjährige Tochter wollen auf keinen Fall weg. Er offenbar auch nicht. Obwohl Tübingens Altstadt voller Kneipen ist, bleibt Kuhn selbst abends meistens im „Kiez“, wie er sagt. Wenn andere in das Viertel etwas reinprojizieren und es dann nicht finden, ist das nicht sein Problem. Ein „Ökodasein“ spürt er nicht. Und die angeblichen Spießer, die bei einem Straßenfest „spätestens Viertel nach zehn die Bullen“ bestellen? Das sieht er leidenschaftlos. Erstens prallen Schlafen und Ausgehen in Mischgebieten unausweichlich aufeinander. Und zweitens: „Das ist hier nicht der Öko-Grünen-Kommunen-Spirit, der da hineingeheimnist wird, das ist wie überall.“

Kuhn erzählt über seine steigende Abneigung gegen das Fliegen, seine wachsende Zuneigung zum Bahnfahren, seine Erkenntnis, dass Karibikurlaube das Lebensglück nicht vergrößern, sondern reduzieren, dass ein Bandbus, der 13 Liter Sprit braucht, ziemlich effizient ist, wenn sieben Leute drin sitzen. Und sein alter Porsche sogar umweltfreundlich, da er keine 3.000 Kilometer im Jahr damit fährt. Er weiß, dass es nicht Klick machen wird und schon ist Kretschmanns sozial-ökologisches Wirtschaftswunderland da. Und ist trotzdem beglückt vom historischen Wechsel in Baden-Württemberg.

Die Entwicklung des Popmusikers, so unspektakulär sie scheint, könnte von einem Bewusstseinswandel künden, der in diesem Land in Gang kommt. Kuhn gehörte zu denen, die in den Neunzigern ihren Widerstand durch ironische Distanz ausdrücken wollten – was ihn beruflich zum Superstar machte, weil das ironisierte „Schala-lalala“ genau dem Zeitgeist entsprach. Er hat immer Grün gewählt – und war nie politisch im Sinne der Gründerväter. Eigentlich sah er nur zu.

Aber seit der Geburt seiner Tochter hat die Ernsthaftigkeit rapide zugenommen. Die lähmende Selbstzufriedenheit ist einer Ratlosigkeit und tastenden Politisierung gewichen; die ironische Gleichgültigkeit der Frage, was er, Kuhn, tun kann und tun muss, damit seine Tochter nicht nur zu Fuß zur Kita gehen kann, sondern in einer postkarbonen Gesellschaft einigermaßen gut leben.

Auch Thomas Kuhn hat die Antwort nicht. Aber er sucht sie.

Peter Unfried, 47, ist taz-Chefreporter. Er verzichtet auf Kohle- und Atomstrom, Klimakriege und Kretschmann-Phobie

Eléonore Roedel, 40, ist Diplom-Illustratorin. Sie verzichtet auf steigende Mieten und arrangiert sich mit einer wassersparenden Dusche