Neuserbische Volksheldin

Nach Serbiens Eurovisions-Sieg unterstellt der deutsche Boulevard eine Osteuropa-Verschwörung. Geht’s noch?

Der „Volkszorn“ koche, hieß es gestern auf vielen Redaktionskonferenzen – das sei doch alles nicht mit rechten Dingen zugegangen. Jene Aufwallung nationaler Gefühle wurde in jeder Hinsicht vor allem durch eine Zeitung lanciert, die nur von Bildern und Schlagzeilen lebt, nicht von Information. Die titelte gestern: „Mieser Schummel beim Grand Prix“. Was ist wahr, was ist bloß wirklich passiert?

Ein deutscher Musiker, der Roger Cicero heißt, wurde beim 52. Eurovision Song Contest von 30 Ländern nicht verstanden und also mit gar keinen Punkten ausgestattet, der Rest gab magere Voten. Aus dem Hype um einen tatsächlich großartigen Jazzer ist über Nacht, ohne dessen Zutun, um es genau zu sagen, eine Scheintragödie geworden: Deutschland – mal wieder die dauerempörte Nation. Schlagersängerin Nicole, 25 Jahre nach ihrem Karrierezenit, ihrem eigenen Sieg beim Grand Prix Eurovision, ließ sich vernehmen mit der Forderung, Deutschland solle aus diesem Festival aussteigen.

Im Übrigen zogen alle Boulevardmedien vom Tenor her mit: Der Berliner Kurier, die Berliner B.Z., die Hamburger Morgenpost wie auch der Kölner Express oder die Münchner AZ. Deutschland – betrogen, verkannt, übel verladen. Die FAZ immerhin erkannte den ermüdend langweilenden Effekt, dass es nicht zur Spannung beiträgt, bekommen osteuropäische Acts immer fast alle Punkte, die anderen nur die Krümel. Jedenfalls darf abermals notiert werden: Ohne west- und nordeuropäische Stimmen wäre kein Land aus Osteuropa weit vorne gelandet – der Sieg der Serbin Marija Šerifović war eindeutig wie auch der zweite Rang des Ukrainers Verka Serduchka. Ästhetisch wie popmusikalisch gab es an den Top 6 nichts zu mäkeln.

Man kann die Chose auch einmal entwicklungspolitisch sehen: Die Siegerin verkörpert in Serbien die entschlossene Haltung eines „Neuserbientums“ – also Schluss mit Amselfeldopfergetue, verfolgter Unschuld und „Die Kosovaren haben an allem Schuld“. Es war bezeichnend, dass Marija Šerifović seit der Nacht zum Sonntag eine Volksheldin in ihrer Heimat ist – und keine oder eine nur sehr dürre Gratulation von den ehemaligen Milošević-Fellows, von den Nationalisten oder Faschisten erhielt. Deshalb, weil diese auch in Bosnien wie Slowenien oder in Mazedonien bekannt wurde, fielen ihr alle Herzensstimmen aus dem anderen Restjugoslawien nur so zu. Der Eurovision Song Contest war in dieser Hinsicht, so schlug sich das auch in den Belgrader Medien nieder, ein Angriff auf serbisches Dumpfbackentum und dessen Kriegslust.

Bleibt Deutschland nun das einzige Land auf dem Kontinent, das nur die Schaumkronen des eigenen Safts, in dem es brät, für genießbar hält? Nicoles Art des Entertainments (Blockflötenästhetik usw.) würde in Europa nicht einmal mehr für irgendeine Vorrunde reichen. Ihr Kollege Johnny Logan („Hold Me Now“) sagte vorgestern Abend auf dem Flughafen von Helsinki: „Marija? Die wunderbare Serbin? Ich hätte es nicht besser singen können.“ JAN FEDDERSEN