Auf digitalem Stand

„Virus war sein Begriff fürs Universum“: Eine Erinnerung von Peter Weibel an seinen Freund Jean Baudrillard

Jean Baudrillard und ich haben uns 1974 beim Experimentalfilmfestival im belgischen Knokke kennengelernt. Er war interessierter Besucher, ich habe dort meine Filme gezeigt, so sind wir auch ins Gespräch gekommen. Viele Jahre später hat er 1988 dann unter dem Titel „Transästhetik“ einen Text über meine künstlerische Arbeit geschrieben, für einen Katalog zu meiner Ausstellung „Inszenierte Kunstgeschichte“ im Museum für Moderne Kunst in Wien.

In dieser Zeit hat er mir auch erzählt, dass er selbst fotografiert. Deshalb habe ich ihn ermutigt, diese Fotos auszustellen, habe ihm einen Kontakt zur Frankfurter Galerie Martina Detterer vermittelt und die Bilder 1999 im Grazer Joanneum gezeigt. Mir gefiel, dass sich die Fotos nicht um Kunstgeschichte scherten und stattdessen die Epiphanien des Alltags sichtbar machten. Darin lag für mich eine Einzigartigkeit, wenngleich Baudrillard sich eher Andy Warhol und dessen Verbeugung vor dem Gewöhnlichen nahe sah.

Vor allem hat mich natürlich sein medientheoretischer Ansatz interessiert, wie er immer wieder versuchte, seine Vorstellung von Simulation auf den neuesten digitalen Stand zu bringen. Der Virus war ja praktisch sein Begriff für das ganze Universum. Gleichwohl hat er der Medienkunst zu mehr Aufmerksamkeit verholfen. Ohne die Reflexionen der französischen Philosophie, besonders von Baudrillard, Jean-François Lyotard oder Gilles Deleuze, wären solche Positionen nie durchsetzbar gewesen. Sie haben überhaupt erst einen Begriffsapparat geschaffen, der bei der Etablierung von Medienkunst geholfen hat – bis hin zur Errichtung des ZKM in Karlsruhe. Was mich aber am meisten mit Baudrillard verbunden hat, das war unsere gemeinsame Herkunft aus dem Situationismus der Fünfzigerjahre. Und trotzdem war er damals noch ein Vertreter der Frankfurter Schule gewesen, hatte als Assistent für Henri Lefebvre gearbeitet. Diese Verbindung aus Situationismus und Kritischer Theorie, das hat mir immer an Baudrillard gefallen. PETER WEIBEL

Peter Weibel, 63, ist Künstler, Medientheoretiker und Vorstand des ZKM in Karlsruhe