Escobar getrotzt

KOLUMBIEN Wie sich die Zeitung „El Espectador“ zurück auf den Markt kämpft – trotz mächtiger Gegner

Früher: El Espectador ist Kolumbiens traditionsreichste Tageszeitung. Sie wurde am 22. März 1887 in Medellín von Fidel Cano Gutiérrez gegründet. 1915 wurde der Hauptsitz der Zeitung nach der Landeshauptstadt Bogotá verlegt. In den achtziger Jahren wurde die Zeitung international bekannt, weil sie vehement für journalistische Prinzipien und die Demokratie in Kolumbien eintrat.

Heute: 2011 ist El Espectador die zweitgrößte Tageszeitung des Landes – mit gut 40.000 Exemplaren unter der Woche und einer Wochenendauflage von 110.000. Das ist rund ein Drittel der Auflage des Konkurrenten El Tiempo.

VON KNUT HENKEL

Es ist 17.45 Uhr, eine Sekretärin tritt ins Büro von Chefredakteur Jorge Cardona und legt ihm drei Zeitungsseiten zur Endabnahme auf den überfüllten Schreibtisch. „Die müssen jetzt raus“, erklärt die Frau mit einem entschuldigenden Blick zu den Besuchern und schließt die Tür zum Großraumbüro des El Espectador. Das Blatt ist die älteste Tageszeitung Kolumbiens, wurde in einem Ranking der französischen Zeitung Le Monde 1994 zu einer der besten Tageszeitungen der Welt gekürt – neben renommierten Titeln wie der New York Times. Dann geriet El Espectador in die Krise, schrumpfte zu einer Wochenzeitung. Seit drei Jahren ist sie zurück im Tagesgeschäft – so investigativ, unbequem und meinungsstark, wie es die Tradition des linksliberalen Blattes ist.

Heute sitzen 38 Redakteure im Großraumbüro von El Espectador und arbeiten fieberhaft am letzten Schliff der Samstagsausgabe. Nur Redaktionsleiter Cardona und sein Chef, Fidel Cano Correa, genießen das Privileg eigener Büros in der angemieteten Etage mitten im Presseviertel der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá.

Nach langer Krise befindet sich El Espectador wieder im Aufwind. Vor drei Wochen wurde die Seitenzahl wochentags von 36 auf 40 erhöht, ein paar neue Redakteure wurden eingestellt. „Wir sind auf dem besten Weg, wieder an längst vergangene Zeiten anzuknüpfen, denn wir wachsen gegen den nationalen und internationalen Trend“, sagt 52-jährige Cardona zufrieden. Der schmächtige Mann mit dem buschigen Oberlippenbart gehört quasi schon zum Inventar der Zeitung, denn mit seinen 18 Dienstjahren hat er wie kaum ein anderer ihren Niedergang, aber auch ihre Wiederauferstehung begleitet.

Gerade hat er die drei letzten Seiten für den Druck freigegeben, die Samstagsausgabe ist fertig. Cardona ist froh, dass es bergauf geht mit seiner Zeitung. Auch wenn es der kleine Mann, der das linke Bein leicht nachzieht, nie so formulieren würde: In Kolumbiens Medienszene ist man sich einig, dass Cardona einer der beiden Väter des neuen El Espectador ist.

Der andere ist Fidel Cano Correa. 2004 übernahm der 45-Jährige die Leitung der Zeitung – am Ende einer steilen Talfahrt. Als aus der Tageszeitung El Espectador eine Wochenzeitung geworden war. Nachdem sie von einer Krise in die andere gestürzt war, mehrere Herausgeber an ihr gescheitert waren. Cano Correa trat damals in die Fußstapfen seines Urgroßvaters Fidel Cano Gutiérrez, der El Espectador im März 1887 in Medellín gegründet und zum linksliberalen Sprachrohr Kolumbiens gemacht hatte.

Herausgeber erschossen

Die Auflage steigt. Woran auch Wikileaks-Mitgründer Julian Assange Anteil hat

Der Niedergang begann am 17. Dezember 1986 – mit dem Tod von Guillermo Cano Isaza. Der damals 61-jährige Herausgeber des El Espectador wurde nur wenige Meter entfernt vom damaligen Redaktionssitz von Killern niedergeschossen. Auftraggeber war Pablo Escobar, Kolumbiens mächtiger Kokainbaron. Dessen Machenschaften hatte das Blatt unter der Leitung von Cano Isaza immer wieder aufgedeckt – zum Ärger von Escobar. Und trotzdem lag El Espectador am Tag nach dem Mord mit der Schlagzeile „Seguimos adelante“ (Wir machen weiter) wieder am Kiosk. Eine Haltung, für die die Zeitung weltweit Respekt und Solidarität erntete. Die sie aber nicht vor weiteren Anschlägen schützen konnte: Drei Jahre später, am 2. September 1989, explodierte eine Bombe vor dem Foyer der Redaktion und riss das halbe Gebäude weg. Auftraggeber war erneut Escobar. Er wollte das kritische Blatt mundtot machen, das Kolumbiens schwache und von Drogenhändlern unterwanderte Demokratie verteidigte.

Es wäre beinahe gelungen, denn die durch die Explosion entstandenen Schäden rissen auch ein tiefes Loch in die Bilanz der Zeitung. Kredite wurden aufgenommen, die Verlegerfamilie Cano, die das Blatt bis dahin mehr als einhundert Jahre lang gesteuert hatte, geriet in eine finanzielle Schieflage.

Kaputt gespart

„Mitte der Neunziger wurde die Situation so schwierig, dass wir nach finanzstarken Partnern suchen mussten“, erinnert sich Jorge Cardona. 1997 ging die Aktienmehrheit an dem historischen Gebäude, in dem Redaktion und Druckerei untergebracht waren, an die Santo-Domingo-Gruppe über, einen Getränkehersteller mit mehreren Medienbeteiligungen. „Eine folgenschwere Entscheidung“, sagt Jaime Barrientos, Hochschuldozent für Journalismus und bis 2000 Redakteur bei El Espectador. „Zwar wurden anfangs viele Millionen kolumbianische Peso investiert, um mit dem größeren konservativen Konkurrenzblatt El Tiempo mitzuhalten. Aber als die Rechnung nicht gleich aufging, griff man zum Rotstift.“

Ab Frühjahr 2000 wurden Redakteure entlassen, ein Jahr später wurde das historische Verlagsgebäude verkauft, im September 2001 die Wochentagsproduktion eingestellt. Renommierte Journalisten wie der Investigativjournalist Ignacio Gómez hatten das sinkende Schiff schon verlassen. Cardona hielt trotz einiger Offerten die Stellung.

Aufwärts ging es erst, als Herausgeber Cano Correas 2004 einstieg. Unter seiner Führung besann sich die Zeitung auf alte Stärken. Setzte vermehrt auf die Meinungsseiten und die investigative Abteilung. „Die Marke El Espectador wieder sichtbar machen“, nennt das Cano Correa. Dass er hinter den Kulissen die Besitzer bekniete, dem Blatt eine zweite Chance zu geben, verschweigt er.

Kolumbiens Kokainbaron Escobar wollte das kritische Blatt mundtot machen

Das Konzept zeigte schnell Erfolge. Die Auflage der Wochenzeitung stieg, Ende 2006 wurde sie für ihre journalistische Qualität ausgezeichnet. Das sorgte auch bei den Geldgebern für mehr Engagement, sagt Fidel Cano Correa. Lächelt. 2007 schlug er den Besitzern vor, die Tageszeitung wiederauferstehen zu lassen. Ein ehrgeiziges Projekt, das dem Trend im internationalen Zeitungsmarkt widersprach, aber in Cardona und Cano zwei enthusiastische Verfechter hatte. 2008 gaben die Besitzer grünes Licht, förderten das Projekt finanziell. Ein Meilenstein für Kolumbiens Medienlandschaft, meint Journalismusprofessor José Guillermo Angel: „Mit dem El Espectador haben wir wieder eine Tageszeitung, die engagierten Qualitätsjournalismus bietet und wo der Kommentar Gewicht hat.“ Das honorieren auch die Leser, die Auflage steigt.

Woran auch Julian Assange einen Anteil hat. Der Mitgründer der Enthüllungsplattform Wikileaks, bot El Espectador vor ein paar Monaten die Auswertung der Geheimdienstdepeschen über Kolumbien und Venezuela an. Die Chefredaktion griff zu – nun erscheint einmal wöchentlich mit einer Wikileaks-Seite. „Für die ist ein Redaktionsteam abgestellt“, sagt Cardona. „Die Depeschen sollen auch der investigativen Abteilung weiteren Auftrieb geben.“ Die arbeitet überhaupt sehr erfolgreich, hat in den letzten drei Jahren mehrere Skandale aufgedeckt – etwa eine Abhöraffäre, bei der Geheimdienste Politiker, Richter und Journalisten überwachten, oder Bestechungsversuche durch Paramilitärs.

„Spätestens in drei Jahren wollen wir schwarze Zahlen schreiben“, sagt Herausgeber Cano Correa und nimmt die fertige Samstagsausgabe von der Sekretärin am Empfangstresen entgegen. Auf dem Weg zum Fahrstuhl fügt er noch hinzu: „Wenn die Leser es wollen.“