Die Mütter mit Vorbildcharakter

MIGRATION Mit den Stadtteilmüttern hat Neukölln vor zehn Jahren ein Modell entwickelt, das mittlerweile auch in andere Bezirke exportiert wird. Allerdings trüben finanzielle Probleme die Feierstimmung

2005 nahmen die ersten 23 Frauen ihre Arbeit als Stadtteilmutter auf

Nuriye S. ist für viele Familien der rettende Fels in der Brandung. Sie hilft, wenn überforderte Eltern nicht mehr weiter wissen, wenn die Sprachbarriere unüberwindbar scheint – wenn Integration zu scheitern droht. Nuryie S, klein, agil, buntes Kopftuch, leuchtend roter Schal, ist „Stadtteilmutter“ in Neukölln. Die Frage ist allerdings, wie lange noch.

2004 startete das Quartiersmanagement Schillerkiez das Projekt „Stadtteilmütter in Berlin“. „Wir wollten Familien erreichen, die für öffentliche Angebote unerreichbar blieben“, erklärt Projektleiterin Maria Macher das Programm für Frauen mit Migrationshintergrund. Ein Neuköllner Modell, das mittlerweile auch in anderen Bezirken praktiziert wird. Anfang der Woche wurde das zehnjährige Jubiläum im Interkulturellen Zentrum Genezareth im Schillerkiez gefeiert.

Doch das mehrfach ausgezeichnete Projekt kämpft mit bürokratischen und finanziellen Problemen. Da die über „Bürgerarbeit“ finanzierten Stellen auf drei Jahre befristet seien und bald ausliefen, verliere die Organisation zum 1. November etwa die Hälfte ihrer aktiven Mitarbeiterinnen, nämlich 57 von 110, klagt Maria Macher. Es seien zwar schon neue Frauen in der Qualifizierung; diese könnten aber erst im Frühling nächsten Jahres anfangen. „Bis dahin haben wir einen Engpass.“ Zwar steht eine Ausweitung der Förderung von Arbeitsverhältnissen (FAV) im Raum, doch scheitere diese an bürokratischen Problemen: „Für eine FAV muss man sechs Monate auf Arbeitssuche sein. Auf unsere Frauen trifft das aber nicht zu“, sagt Macher. Die Folge sei weniger Beratung und Hilfe für die Familien.

Mütter informieren Mütter, „auf Augenhöhe und in der Muttersprache“, das sei die Grundidee des Projekts, erklärt Macher. In einem sechsmonatigen Kurs werden die zukünftigen Stadtteilmütter ausgebildet. Auf dem Stundenplan stehen Themen wie gewaltfreie Erziehung, gesunde Ernährung und Sprachentwicklung. Nach der Ausbildung geht es in die Familien. In Treffen werden die dringlichsten Probleme analysiert, gemeinsam wird auch nach Lösungen gesucht. Immer dabei: der rote Schal, das Erkennungszeichen der Stadtteilmütter.

2005 nahmen die ersten 23 Frauen ihre Arbeit als Stadtteilmutter auf. Mittlerweile hätten mehr als 300 Frauen die Ausbildung zur Stadteilmutter absolviert, erzählt Maria Macher. „Seit 2004 haben unsere Frauen mehr als 8.000 Familien in Problemlagen beraten und unterstützt.“ Etwa 1.100 Euro verdienen Neuköllns Stadtteilmütter heute im Monat. Finanziert wird das Projekt durch das Jobcenter Neukölln, das Bezirksamt Neukölln und den Senat. Träger ist das Diakoniewerk Simeon gGmbH.

Seit 40 Jahren lebt Nuriye S. im Schillerkiez, seit zehn Jahren arbeitet sie als Stadtteilmutter und ist damit von Anfang an dabei. Eigentlich sei sie gelernte Erzieherin, erzählt sie etwas außer Atem. Gerade hat sie noch mit anderen Stadtteilmüttern ein Lied anlässlich des Geburtstagsfeierlichkeiten des Projektes vorgetragen. Um sie herum ein Gewühl aus Gratulanten, stolzen Stadtteilmüttern und Verwandten, das sich auf dem Vorplatz der Genezareth-Kirche drängt. „Nach der Erziehungspause für meine drei Kinder hatte ich keine Chance mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt“, berichtet die 50-Jährige. Bei jedem Bewerbungsgespräch habe sie das Gleiche gehört: zu wenig Arbeitserfahrung, zu unflexibel. Auch das Kopftuch habe einige potenzielle Arbeitgeber abgeschreckt.

Weil der Wiedereinstieg in ihren Beruf nicht gelingt, vermittelte das Jobcenter Weiterbildungsmaßnahmen. Nach ein paar Dutzend Computer- und Bewerbungskursen habe sie genug gehabt, erzählt die Stadtteilmutter: „Ich wusste, wie man eine Bewerbung schreibt. Was mir fehlte, war eine vernünftige Arbeit.“ In einer Zeitungsannonce entdeckte sie die Anzeige der Stadtteilmütter und bewarb sich. „Ich war begeistert von der Idee“, erinnert sich Nuriye S. Die Möglichkeit, anderen Menschen zu helfen und sich dabei selber weiterzubilden, das habe ihr gefallen.

Viel Mundpropaganda

Die Probleme, mit denen sie als Stadtteilmutter zu tun hat, erreichen sie per Telefon oder per „Mundpropaganda“. Oft gehe es um Erziehungsfragen, Probleme in der Schule oder einen fehlenden Kitaplatz, erzählt Nuriye S. Natürlich sei der Job nicht immer leicht. Oft hapere es bei der Umsetzung der gefundenen Lösungsansätze. Dann helfe nur Geduld, sagt sie und lacht. Es gäbe aber auch sehr schöne Erlebnisse, sagt die 50-Jährige und erzählt von ihrem jüngsten Treffen: „Ich habe die Frau gefragt, was ihr am besten gefallen habe. Sie hat gesagt: dass wir in den Stadtteilmüttern jemanden gefunden haben, der uns unterstützt. Auf den wir uns verlassen können.“

Schaut Nuriye S. auf die vergangenen zehn Jahre zurück, ist sie zufrieden. „Durch die Stadtteilmütter haben sich immer wieder neue Türen für mich geöffnet.“ Seit Dezember vergangenen Jahres arbeitet sie als Integrationslotsin und hat es damit auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft, wenn auch erst einmal auf ein Jahr befristet – gemeinsam mit neun weiteren Stadtteilmüttern. Lediglich 10 von 358 ausgebildeten Stadtteilmüttern, das sei nicht genug, erklärt Projektleiterin Maria Macher: „Langfristig sollte es gelingen, alle Frauen auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln und gerecht zu bezahlen.“ Dabei sieht sie auch den rot-schwarzen Senat in der Pflicht.

Nuriye S. weiß noch nicht, wie es weitergeht, wenn ihr Vertrag im Dezember ausläuft. Trotzdem hofft sie, dass „ich auch das nächste große Jubiläum des Projektes als Stadtteilmutter feien kann“. GESA STEEGER