Ein Vortrag, eine Predigt

LITERATURFESTIVAL Eine echte Istanbuler Dame: Die Sufi-Autorin Cemâlnur Sargut spricht in der Sehitlik-Moschee frei und mit großer Freude über das Im-Ganzen-Aufgehen

Kurz kommt sie auch auf Selbstmordattentäter zu sprechen: Jene würden unislamisch handeln. Ein wahrer Mystiker würde nicht einmal auf den Tisch schlagen, weil auch der Tisch Teil der Schöpfung ist

VON DETLEF KUHLBRODT

Am Donnerstag hatte Cemâlnur Sargut ihren ersten von zwei Auftritten im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals in der Sehitlik-Moschee Neukölln, am Columbiadamm. In der Türkei ist die Sufi-Autorin berühmt. Sie erläutert in ihren „Radiogesprächen“ die Lehren ihres Meisters Ken’an Rifâî, in denen es vor allem um die „Befreiung des Menschen von seinem eigenen Ego geht. Sargut und Rifâî gehören zu den wichtigsten zeitgenössischen Leitfiguren des Sufismus in der Türkei, die diese uralte, dem Inneren des Menschen zugewandte Strömung in der heutigen Zeit zugänglich machen“, heißt es im Programmheft des Literaturfestivals.

Islamische Mystik. Älter als der Islam.

Es ist ein wunderschöner Herbstabend in der Moschee neben dem Islamischen Friedhof, den es seit 1866 gibt. Ich fühle mich ein bisschen unsicher, weil ich selten in einer Moschee bin und weder mit dem Islam noch mit dem Sufismus, der oft als mystische Strömung innerhalb des Islams beschrieben wird, gleichzeitig aber als älter als der Islam gilt, vertraut bin. Da ich auch kein Türkisch verstehe, fühle ich mich ein bisschen wie im Urlaub.

Die an der osmanischen Architektur des 16. und 17. Jahrhunderts orientierte Moschee ist sehr schön. Besonders gut gefallen mir die himmelblauen Farbtöne und dass Kinder in der Moschee spielen und dass man auf schönen Teppichen sitzt. Fast hundert Leute sind gekommen; meist türkische Frauen. Die Deutschen sind in der Minderheit und scharen sich um Melek Karlimaz, die für die Übersetzung zuständig ist. Pinar Çetin fasst die Geschichte der Moschee kurz zusammen und erklärt, dass die Moschee ein „Ort des Sich-dankend-Niederwerfens“ sei. Sie kündigt Cemâlnur Sargut als „echte Istanbuler Dame“ an.

Sargut erzählt, dass sie zum ersten Mal vor zwölf Jahren in Deutschland über die Schönheit ihrer Religion gesprochen habe, über den „wahren Islam, der das ganze Universum berührt“. Sie spricht frei und mit großer Freude über das Im-Ganzen-Aufgehen und wie wir merken, dass wir nur Schatten hinterherlaufen und uns mit unwesentlichen Dingen aufhalten. Wenn wir den Schöpfer erkennen, der Schöpfung begegnen, kann uns nichts mehr Angst machen. Um das Leben zu verstehen, müssen wir den Tod erkennen.

Viele kleine Geschichten

Oft erläutert sie ihre Gedanken mit kleinen Geschichten, etwa über Lehrer, die sagen, wie anmutig und schön doch der Prophet sei, und einen anderen, der sagte, ach wie ist der Prophet doch hässlich. Ich verstehe sie so, dass es verschiedene Bedeutungen von Schönheit gibt; äußerliche und wesentliche.

In einer Geschichte kriecht einem Schlafenden eine Schlange in den Mund. Er wurde gerettet, nachdem er viele Äpfel aß. Das Bild ist schön, die Bedeutung ist mir nicht ganz klar. In einer anderen steht ein Betender nicht auf, als ein Landrat in den Raum kommt. Der Obere beschwert sich; der Betende fragt: „Was bist du, was möchtest du noch werden?“ – „Präsident.“ – „Und dann?“

Am Ende steht das Nichts. Der Tod. Aber auch die Schönheit des Paradieses. „Wir kommen auf die Welt, um ein Spiegel des Schöpfers zu sein; wir können nicht den Schöpfer lieben und Teile seiner Schöpfung ablehnen.“ Alles muss enden, unsere inneren Organe sind hässlich. „Wenn ich sie jetzt hier hinlegen würde, würden Sie alle weglaufen.“ Man soll nie schlecht über andere reden, man soll nicht ständig klagen, sondern der Schöpfung und dem Schöpfer zugewandt leben.

Kurz kommt sie auch auf Selbstmordattentäter zu sprechen: Jene würden unislamisch handeln. Ein wahrer Mystiker würde nicht einmal auf den Tisch schlagen, weil auch der Tisch Teil der Schöpfung ist. In allem ist Gott. Auch Krankheiten sind ein Geschenk Gottes. Wir können nichts ändern, aber in Übereinstimmung mit unserem Schicksal leben. Was wiederum nicht heißt, dass wir uns nicht engagieren sollten. Und wenn einem jemand Böses zufügt, muss man 40 Tage gut von ihm denken, dann wird er dein Freund.

Mit einem „Gott schütze euch“ endet der Vortrag, die Predigt von Cemâlnur Sargut. In einer langen Schlange stehen die Leute danach vor der Moschee am Büchertisch, lassen ihre Bücher signieren und fotografieren die Sufistin. Es ist ein schöner Herbstabend.