„Kinder brauchen Zuwendung und Liebe“

An Stelle von Hochsicherheitsgefängnissen fordert Sozialwissenschaftler Klaus Jünschke pädagogische Konzepte

KLAUS JÜNSCHKE, 59, saß als RAF-Terrorist im Gefängnis, studierte dort Sozialwissenschaften. Heute engagiert er sich für straffällige Jugendliche

taz: Herr Jünschke, das Kabinett hat diese Woche das neue Jugendstrafvollzugsgesetz verabschiedet. Wird die Situation in den Jugendknästen in NRW jetzt besser?

Klaus Jünschke: Nein. Gefängnisse sind die Stein gewordene Transformation von sozialen Konflikten. Statt soziale Konflikte sozial zu lösen, werden sie zu Problemen der Überwachung und Kontrolle gemacht. Wer Gefängnisse mit über 500 Plätzen plant, wie sie in Heinsberg und Wuppertal vorgesehen sind, bewegt sich genau in dieser Logik. Die Sicherheits- und Ordnungsprobleme in solchen Riesenanstalten werden zwangsläufig im Vordergrund stehen und jeglichen Erziehungsvollzug dominieren. Die Jugendlichen passen sich unter dem Druck äußerlich an und tauchen in Subkulturen ab.

Diese Probleme gab es auch in der Justizvollzugsanstalt in Siegburg. Einzelzellen sollen nun die Jugendliche vor Übergriffen schützen.

Einzelzellen selbst sind ein Übergriff. Besonders bei Jugendlichen löst die Tatsache, in einem Raum eingesperrt zu sein, Angstzustände, Gefühle des Ausgeliefert- und Alleinseins aus und produziert Hass.

Was wäre die geeignete Alternative?

Zimmer in Wohngruppen. Zimmer, die die Jugendlichen verlassen können, wenn sie Angst bekommen. Fachverbände wie die Bewährungshilfe fordern außerdem schon seit langem, dass der offene Vollzug für Jugendliche zum Regelvollzug werden soll.

Sie fordern also eine Abschaffung der Jugendknäste?

Unbedingt. Wenn Kinder, die in durch Gewalt und Verachtung geprägten Milieus aufgewachsen sind, zu einer Gefahr werden, kann es durchaus sinnvoll sein, sie eine Zeit lang festzuhalten. Aber wir brauchen keine Hochsicherheitsgefängnisse für Jugendliche. Auch jahrelange Haftstrafen halte ich für falsch und unangebracht. Stattdessen sollte stärker individuelle und gruppenspezifische Betreuung stattfinden. In anderen europäischen Staaten funktioniert das auch. Die Schweiz zum Beispiel kennt gar keine Jugendknäste.

Glauben Sie, das ist hierzulande realisierbar? In Politik und Gesellschaft hört man oft die Forderung nach härteren Strafen.

Kinder brauchen Zuwendung und Liebe. Wo dies nicht gegeben ist, kommt es zu negativem sozialen Verhalten. Das weiß man seit 100 Jahren. Die Jugendkriminalität wird außerdem in der Öffentlichkeit stark dramatisiert. Nur ein Viertel der inhaftierten Jugendlichen hat bei seinen Handlungen eine Waffe eingesetzt, Menschen schwer verletzt oder einen Schaden von über 5.000 Euro angerichtet. Die meisten jugendlichen Straftäter begehen kleinere Delikte.

Wo liegt dann das Problem?

Wir brauchen dringend eine Diskussion über den Sinn und Unsinn von Strafe, sowie einen anderen Umgang mit Kriminalität. Die Kriminalisierung von Jugendlichen hat vor allem eine Sündenbockfunktion. Wir sollen uns über kriminelle Kids aufregen statt über den Zusammenhang von Reichtum und Kriminalität nachzudenken.

INTERVIEW: STEPHANIE KASSING