Auf dem Höhepunkt

Eine Welle des Verlangens brandet in ihr hoch wie auf einem Meer: Céline Curiols Roman „Von Liebe sprechen“

Ist das nun bloß naiv oder vielleicht sogar ein bewusstes Spiel mit Versatzstücken und Abziehbildern?

Von Liebe sprechen in der Regel nur unglücklich Verliebte. Glückliche Liebende haben ja auch kaum die Zeit dazu. Die Heldin aus Céline Curiols Debütroman ist so eine unglücklich Verliebte, die sehr viel Zeit und noch mehr Worte in ihr Liebesleid investiert. Wenn die junge Frau, die als Bahnhofsansagerin am Gare du Nord arbeitet, nicht gerade Züge ankündigt, streift sie verloren auf der Suche nach dem Geliebten durch Paris. Oder sie sitzt stundenlang neben dem Telefon und wartet auf seinen Anruf. Meist vergeblich, denn der Angebetete ist mit einer schönen, selbstsicheren, in jeder Hinsicht perfekten Frau zusammen. Und dennoch scheint er einer Affäre nicht abgeneigt.

Curiol scheut sich nicht, den Seelenzustand ihrer namenlosen, verschlossenen Heldin beim Namen zu nennen. „Sie wechselte von einem Gefühl zum nächsten, ohne dass diese Gefühle einen wirklichen Bezug hatten.“ Ohne auch nur einen Hauch von Ironie ist da von inneren Narben die Rede, die jeder Mensch zu verbergen hat, von einer Wirklichkeit, die Risse bekommt, und den Rollen, die wir alle im Leben spielen. Das Motiv des Rollenspiels wird in Variationen durchexerziert. So schläft die kühle, wortkarge Frau mit einem Transvestiten, gerät ins Schauspielermilieu, sitzt Modell bei einem Fotoshooting und gibt sich bei einem Abendessen zum Spaß als Prostituierte aus. Allmählich erfährt man, welches traumatische Erlebnis sich hinter diesem Hang zur Selbstinszenierung verbirgt: ein inzestuöses Verhältnis in jungen Jahren, irgendwo zwischen Verführung und Missbrauch angesiedelt.

Dabei besitzt Curiol – eine französische Autorin, die in New York lebt und von Paul Auster gerade sehr protegiert wird – durchaus eine scharfe Beobachtungsgabe. Das zeigt sich, wenn sie alltägliche Szenen schildert, das Treiben auf den Straßen, in der Metro, die Blicke des Kellners im Café oder die belanglosen Gespräche unter Freunden. Doch sobald sie beginnt, von Liebe zu sprechen, greift sie auf Floskeln zurück. Seine Küsse bereiten „intensives Wohlbehagen“ und wenn er ihre Hand nimmt, setzt der Druck „eine unglaubliche Menge an Energie in ihr frei“. Dann wieder ist „der Energiefluss zwischen ihnen abgerissen“. Und doch: „Da ist diese unglaubliche, fast greifbare Spannung zwischen ihnen.“ Schließlich landen die beiden im Bett, und „eine Welle des Verlangens brandet in ihr hoch wie an der Oberfläche eines Meers“.

Durch den Sex mit dem Mann ihrer Träume wird sie endlich von dem alten Trauma erlöst und findet zu sich selbst: „Nicht mehr Millionen von Ichs sein, verloren in den vielen schmerzhaften Minuten der Vergangenheit; jetzt endlich eins sein, vereint mit dem Vergessen, vereint mit ihm.“ Auf den melodramatischen Höhepunkt folgt schon bald die Ernüchterung, doch der psychologisierende Tonfall bleibt erhalten.

Ist das nun bloß naiv oder vielleicht sogar ein bewusstes Spiel mit Versatzstücken und Abziehbildern aus dem reichen Fundus weiblicher Selbsterfahrungsliteratur? Einmal bekennt sich die Heldin offen zu ihrer Vorliebe für Klischees, als sie sich ausmalt, wie sie im Urlaub eng an den Geliebten geschmiegt durch die Straßen Londons streifen wird: „Ein echtes und schönes Klischee, für das sich die besten Romane, die ihre Epoche hervorgebracht hat, nicht zu schade waren; sie wird es sich gern zum Vorbild nehmen.“ Für eine Figur, die ihren Tagträumen nachhängt, ist das in Ordnung. Schade nur, dass bei dieser jungen Autorin mit spürbaren literarischen Ambitionen die Distanz zu herkömmlichen Liebesroman-Klischees zu undeutlich ausfiel. MARION LÜHE

Céline Curiol: „Von Liebe sprechen“. Aus dem Französischen von Sabine Schwenk. Piper Verlag, München 2007, 278 Seiten, 18,90 Euro