Ganz viel Todesruhe

TAZ-SERIE STADTFLUCHT Wäre die Welt eine Scheibe, liefe man hier Gefahr herunterzufallen: ein Besuch in Halbe mit seinen bei den Neonazis beliebten riesigen Kriegsgräberstätten

■ Wer kennt das nicht: die Stadt zu laut, zu groß, zu voll. Selbst die Sommerferien sorgen längst nicht mehr für Entschleunigung, die urlaubenden BerlinerInnen werden durch Schwärme von Touristen ersetzt. Wie gut, dass wir in Berlin leben: umgeben von idealen Ausflugszielen für Kurztrips, die näher liegen, als man oft glaubt.

■ In loser Reihenfolge fahren unsere AutorInnen ins Umland und schreiben darüber. Einzige Voraussetzung: Das Ziel muss für maximal 10 Euro erreichbar sein.

■ Die Reihe begann mit einer Tramfahrt nach Rüdersdorf (4. August), es folgten eine Entdeckungstour durch Biesenthal (11. August), eine Kanutour ab Erkner (13. August), eine Wanderung bei Neuruppin (18. August) und ein Besuch im Kloster Chorin. (taz)

VON RENÉ HAMANN

In der Nacht kam die Einberufung. Der Marschbefehl. Ich weiß nicht genau, was mich nach der ersten Euphorie solange abgehalten hat, den versprochenen Ausflug nach Halbe zu unternehmen, hin zu den größten Kriegsgräberstätten Ostdeutschlands. Vielleicht lag es daran, weil niemand mitkommen wollte. Vielleicht aber auch, weil das Thema – Halbe, Ort der letzten großen Schlacht im Zweiten Weltkrieg vor dem Fall Berlins, damals im April 1945, ist unterdessen auch für Neonazis so ein Wallfahrtsort geworden – anfing, mich irgendwie unangenehm zu berühren, trotz aller Begeisterung für Geschichte. Nazis, Friedhöfe, der Tod, ein Kaff im Brandenburgischen: keine gute Mischung.

Aber dann habe ich geträumt, eine Einberufung zu bekommen. Dabei hatte ich Zivildienst geleistet und bin von Wehrdienst so weit weg wie sonst vielleicht nur von der katholischen Kirche: sowohl vom Alter, als auch von der Einstellung her. Der Traum konnte also nur das bedeuten: Es wird Zeit, den Dienst anzutreten. Ich hatte den Ausflug mit Text und Fotos versprochen und endlich einen freien Tag, also los.

Nach Halbe zu kommen, ist indes gar nicht so einfach. Das einfache Ticket hin kostet 6,60 Euro, hin und zurück geht es mit einer Tageskarte für 13,20 Euro. Abfahrt Hermannplatz. Von da aus mit der U7 zum S-Bahnhof Neukölln, dann mit der S-Bahn nach Königs Wusterhausen. Dort wird der Bahnhof gerade umgebaut, also muss man schnell reagieren und einfach dem Strom der Leute folgen, die tatsächlich auch die Regionalbahn Richtung Cottbus nehmen wollen. Dann noch ein paar Stationen, und man landet in Halbe.

Halbe, Schauplatz dieser Riesenschlacht, einstmals von einem riesigen Waldgebiet umgeben, ist heute leider nicht viel mehr als ein heruntergekommenes Kaff am Ende der Welt. Wäre die Erde eine Scheibe, liefe man hier Gefahr herunterzufallen. Am Bahnhof gibt es einen Tante-Emma-Laden, links bildet ein Riesensupermarkt das Ortszentrum, es gibt eine zerfallene Kirche und ein paar Häuschen, die entweder nach Preußen ca. 1910 aussehen oder nach Nachwendezeit. Dazu gibt es die obligatorische Platte und eine lange Landstraße mit handgezählten Läden, die mal wegen Sommerferien, mal wegen „rentiert sich nicht“ geschlossen haben.

Aber es gibt eben diesen großen Friedhof. Ein umjägerzäunter Kiefernwald, sieben Hektar groß, an einem Hang gelegen. Leider hat der Friedhof unter der Miniermotte oder einem ähnlichen Schädling zu leiden. Was fast schon komisch ist an diesem Ort, an dem 24.000 Opfer der Kesselschlacht begraben sind. Pro Jahr, so erfährt man im Informationszentrum, kommen 2.200 Tote hinzu – aufgrund von Umbettungen, vor allem aber aufgrund von Funden in der Gegend. „Die sterblichen Überreste werden zumeist bei Straßenbauarbeiten gefunden … Man muss annehmen, dass noch viele weitere Tote in der Erde der märkischen Wälder liegen“, heißt es in einer Broschüre.

Es liegen nicht nur Wehrmachtsangehörige da, sondern auch viele Opfer der Roten Armee. Die haben einen schönen Stern auf ihrem Grabstein. Auffällig ist außerdem, dass einige Frauen darunter sind: Die Rote Armee hatte eine Frauenquote.

Ebenfalls auf dem Friedhof: die Opfer eines Nachkriegslagers der Sowjetbesatzer, des sogenannten NKWD-Lagers Ketschendorf/Fürstenwalde. Fast schade, dachte ich an diesem sonnigen Mittwoch, dass die hier begrabenen Träger meines Nachnamens – allesamt wohl keine Verwandten – ausschließlich aus diesem Lager stammten. Also mutmaßliche „Werwölfe“, versprengte Hitlerjugend, die im Verdacht stand, gegen die neue Besatzungsmacht kämpfen zu wollen.

Insgesamt atmet der Friedhof die entsprechende Todesruhe und ist dank der Bäume auch irgendwie besonders. Ein richtig gutes Bild gibt der Friedhof allerdings nicht her. Was an den fehlenden Kreuzen liegt: Davon gibt es ganze drei. Statt Grabsteinen sieht man nämlich schlichte Grabplatten, mit Namen (oder Zahl plus „Unbekannte“) und vagen Daten. Zitat Broschüre: „Viele Gräberreihen ziehen sich heute entlang des leicht abschüssigen Geländes. Bäume und Sträucher passen sich der Landschaft an und vermeiden Monotonie.“

Um Friedhof und dem Ort herum ist kaum noch etwas von dieser verlustreichen Schlacht zu sehen. Man muss sich das so vorstellen: Auf engsten Raum ist eine ganze Armee, die Neunte nämlich, eingeschlossen und unter feindlichem Feuer. Ein langer Konvoi kommt nicht aus dem Kessel raus, weil sich alle im Weg liegen. Überall zerstörtes Gerät, ausgebrannte Fahrzeuge, Leichen. Berühmt wurde die Armee und die Entsatzeinheit unter General Wenck auch durch Hitlers letzten Funkspruch: „Wo Wenck? Wo Neunte Armee?“

Pommes und Plörre

Heute findet sich ein Imbiss in der Nähe des Waldfriedhofs, in dem es lausige Plörre für 1,30 Euro gibt, also das, was Einheimische wohl Kaffee nennen. Die Reste des hier ansässigen ostdeutschen Proletariats, meist in Deutschlandtrikots gekleidet und vom Alkoholismus gezeichnet, kommen zum Mittagessen her. Die zwei Dorfmädel teilen sich eine Portion Pommes. Vor dem Imbiss steht ein Kastenwagen der „Munitionsbergung“, kein Witz, in dem einer der Arbeiter wie ein Kind sitzen geblieben ist und aus der offenen Wagentür heraus raucht. Ein Plakat des Fußballklubs SG Aufbau Halbe kündet sein Sommerfest an, unter anderem treten die Dancing Dicks auf. Im Strandbad hingegen spielen am 13. September die Bands Graubart und Fanal.

Am Ortsausgang kommt mir dann tatsächlich noch ein echter Nazi entgegen. Ein echter Halber. Also, ein Mann aus Halbe. Jedenfalls trägt er ein T-Shirt mit der Aufschrift „Fucking Racist, 100 % white“. Wenigstens auf Englisch.