Konserviertes Ostgefühl

MINSK Wer den Sozialismus von einst kennenlernen will, ist hier genau richtig

■ Anreise: Im Sommer fährt wöchentlich fünfmal ein direkter Zug, der Paris-Moskau-Express, nach Minsk, im Winter dreimal. Die Fahrt Berlin–Minsk dauert 16 Stunden. Zustieg in Mannheim, Frankfurt am Main, Fulda, Hannover, Berlin, Frankfurt (Oder).

■ Übernachten: Altstadt, Hostel Trinity, 13 bis 35 Euro/Nacht, hostel-traveler.by/; Touristenkategorie im 80er-Jahre-Plattenbau. Hotel Planeta, ab 99 Euro/Nacht, www.hotelplaneta.by/; Hotel Europe, ab 189 Euro/Nacht, www.hoteleurope.by/

■ Literatur: Valentin Akudowitsch: „Der Abwesenheitscode“. Suhrkamp, Berlin 2013; Thomas M. Bohn: „Minsk. Musterstadt des Sozialismus“. Böhlau, Köln 2008

■ Weißrussland: „Natur und Kultur von Brest bis zum Dnepr“, ab Oktober im Trescher Verlag

VON GINA BUCHER

Dass Minsk kein Spaziergang wird, ist schnell klar: Bereits der Unabhängigkeitsplatz ist so monumental groß, dass wir uns zuerst einmal setzen müssen. Der Platz ist gleichzeitig das Dach eines dreistöckigen Einkaufszentrums unter dem Boden, gesäumt ist er lückenlos von denkwürdig prächtigen Bauten. Die Universität etwa steht da, das Minsk-Hotel, der Palast der Post, der Palast der Stadtregierung und natürlich das Regierungsgebäude aus den dreißiger Jahren, vor dem sich Lenin mit belehrendem Blick auf ein Rednerpult stützt. Auch wer wenig vom Sozialismus weiß, erfährt hier: Du, Mensch, bist alleine nichts.

Wer den alten Osten kennenlernen möchte, ist hier richtig: Der Hauptprospekt, der vom Unabhängigkeitsplatz ab geht, verläuft auf der Ost-West-Achse zwischen Berlin und Moskau, wobei Minsk nicht nur geografisch näher zu Moskau liegt. Minsk ist in vielerlei Hinsichten das, was man sich gemeinhin unter dem Wort „Osten“ vorstellt – im Gegensatz zu anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks wird hier der Sozialismus von einst nicht nur architektonisch, sondern insbesondere politisch konserviert. Grund genug, diese Stadt, die als Vorzeigestadt des Kommunismus gebaut wurde, zu erlaufen.

Um etwa den Einfluss der Stadt zu erahnen, die der weißrussische Schriftsteller Artur Klinau so beschreibt: „Ich glaube, dass die Stadt, in der wir lebten, uns beeinflusste. Sie ließ uns die Welt anders wahrnehmen. Es ist ein Unterschied, ob man im betörenden Grün von Parks, zwischen griechischen Vasen und Skulpturen in der Zeitlosigkeit des antiken Himmels lebt, oder ob man von Kindheit an von Hochspannungsleitungen, Heizkraftwerken, rotbraunen Werkhallen, leeren Plätzen und dazwischenstehenden Häuserkästen umgeben ist.“

Der Unabhängigkeitsplatz ist eines der Herzstücke der weißrussischen Hauptstadt. Er liegt am Nezavisimosti, dem Unabhängigkeits-, ehemals Stalinprospekt, der wenige Fußminuten neben dem Bahnhof beginnt und keineswegs der einzige ist. Gegen 18 Kilometer ist er lang, davon sind acht Kilometer Teil der idealen Stadt. Teil des triumphalen Versuchs, zum großen kommunistischen Traum Moskaus etwas beizutragen.

Blitzblank sauber ist es in dieser 1944, streng nach sozialistischen Plänen, zu einem großen Teil von deutschen Kriegsgefangenen wiederaufgebauten Stadt. Während des Zweiten Weltkriegs wurde sie zum großen Teil zerstört; kaum ein Mensch blieb in der Stadt, die früher zaristische Gouvernementshauptstadt mit jüdischen Händlern und russischen Beamten war. In Anlehnung an den Moskauer Generalplan von 1935 mit Axial-Ring-Struktur bauten die Russen die Stadt wieder auf. Schachbrettmuster, giganteske neoklassizistischen Bauten, große Parks. Für Letztere beschäftigt die Stadt Minskselenstroj, eine eigene Forstgesellschaft. Denn die Parks sind wichtig, die Bewohner sollen sich vergnügen und erholen, bloß sollen sie das lieber in der Öffentlichkeit denn im privaten Garten tun.

Das neue Minsk etikettierte die Sowjetunion stolz mit „Sonnenstadt des Sozialismus“. Will heißen: Anders als in sogenannt westlich-kapitalistischen Städten flaniert man in Minsk höchstens durch die Parks, überall sonst wird marschiert. Der Tourist staunt über die gepflegten Boulevards, sucht vergebens Bettler oder Alkoholiker, die man aus jeder größeren Stadt kennt.

Auf dem Weg vom Leninplatz über den Oktoberplatz zum Kalininplatz laufen wir an überdimensionalen, riesigen Palästen vorbei, jenem der Staatssicherheit und der Republik etwa. Immer wieder tauchen große, ernsthafte Männer aus Messing oder Eisen auf, regelmäßig auf den Plätzen, auch mal versteckt unter einer noch nicht zurechtgestutzten Trauerweide.

Das Etikett der leuchtenden Sonnenstadt

Erst wenn man sich zuerst zufällig, schließlich systematisch in die Innenhöfe der Prachtbauten verirrt, sieht man die marode Substanz der Gebäude, abgebröckelte Fassadenstücke, und entdeckt die durchaus poetischen, weil verwilderten Ecken. Viele Details, zum Beispiel die Wippen und Schaukeln auf den Spielplätzen, die Straßenlampen, auch die Mülleimer, sind in leuchtenden Bauhausfarben frisch übermalt, doch nach wie vor von damals – vielleicht aus den sechziger oder siebziger Jahren, als die Euphorie noch da war. Die Kinder auf diesen Spielplätzen quengeln und wirbeln nicht umher. Sie werden mit blinkenden Dreirädern aus Plastik, Made in China, von ihren Eltern um den Platz geschoben.

Das Etikett Sonnenstadt kommt nicht von ungefähr. Noch immer leuchtet die Stadt, selbst wenn die Sonne nicht scheint: gebaut wurde sie mit viel hellem Sandstein. Kommt die Sonne doch hervor, werfen die martialischen Bauten riesige Schatten. Morgens Richtung Berlin, abends Richtung Moskau, denn der Hauptprospekt liegt exakt auf der Ost-West-Achse.

An den Ampeln, die wir jetzt überqueren, hängen modernste LED-Leuchten, die von Grün auf Orange und Rot schalten. Und erst nach ein paar Kilometern Marsch fällt auf, dass die Plakatwerbung im Straßenbild fehlt; lasziver H&M-Models etwa, Graffiti sowieso – Punks übrigens auch. Nur wenige Coca-Cola- oder Samsung-Schriftzüge stehen auf ein paar Dächern. Satellitenschüsseln, für die man unterdessen eine Bewilligung braucht, sehen wir fast keine. Auf den Straßen sind Luxusautos neben alten Ladas und Traktoren unterwegs, es gibt ein paar Edelboutiquen und große Kaufhäuser mit Eigenmarken.

Die Stadt aus anderem Blickwinkel

Der Tourist, der die Zeitungsartikel und Bücher gelesen hat, die man hier nicht zu Gesicht bekommt, sieht die Stadt aus einem anderen Blickwinkel: Hier herrscht ein Diktator, der seine Stadt im Glanz sehen will. Der die Vorderseiten und die Infrastruktur von einst neu übertüncht, in der Hoffnung, dass es keiner merkt. Alexander Grigorjewitsch Lukaschenko konserviert noch sozialistische Planwirtschaft, gleichwohl er einige wenige Unternehmen privatisiert hat (deren Gelder notabene in seine Taschen fließen).

Einer, der der Zeitung Komsomolskaja Prawda Sätze zu Protokoll gibt, wie: „Ich bin nicht wie andere Präsidenten. In mir steckt eine Kuh.“ Nicht nur die OSZE bezichtigt ihn der Menschenrechtsverletzungen und des Vorgehens gegen unliebsame Medien. Seine Kritiker bezeichnen ihn als „Europas letzten Diktator“. Diesen Ausdruck betrachtet Lukaschenko als Dummheit. Er hebt hervor, dass Weißrussland und er nicht über die Ressourcen verfügen, damit er Diktator sein kann.

Seine Sympathisanten halten ihm hingegen zugute, er habe dem Land die schlimmsten Symptome des postsowjetischen Übergangskapitalismus erspart. Hätte er nicht die alleinige Macht über Militär und Polizei, man könnte über ihn lachen. Die saubere Stadt jedenfalls putzen vereinzelte Männer und Frauen mit selbst gebastelten Reisigbesen und zerbeulten Kehrschaufeln. Bei der Metrostation Njamiha improvisieren drei alte Männer an einem verstopften Abfluss der Kanalisation. Ein paar Treppenstufen weiter unten beobachten zwei Polizisten mit zu großen Uniformmützen die Minsker, die aus der Metro in ihr Wochenende hasten. In dieser Stadt wird die Sicherheit zur Bedrohung.

Sicherheit, die zur Bedrohung wird

In der Abendstimmung an der Swislatsch sitzen Pärchen, Familien, und auf dem Fluss schaukeln Liebespaare in den Pedalos. Wäre das Bier hier nicht verboten, wir würden eines trinken. Einige tun das auch, wenn auch heimlich – zwei Freunde verstecken das ihre im Kinderwagen, andere im Mülleimer. Warum, wird klar, als zwei Soldaten mit Schlagstöcken vorbei patrouillieren.

Dieselben Uniformen tragen auch die Absolventen der Militärakademie, die offenbar Mittelpunkt einer Soap des staatlichen Fernsehens ist. Sie läuft im Hintergrund des Restaurants und ist auch ohne Ton verständlich. Ein junger Mann rückt ein, später küsst er im Gebüsch heimlich ein Mädchen, das stolz über seine Uniform streicht.

Anderntags sehen wir viele Brautpaare: An diesem angenehm heißen Julisamstag heiraten mindestens dreißig Paare. Stets in Begleitung einer schwitzenden Hochzeitsgesellschaft in glänzendem Satin und jeweils bis zu drei Fotografen mit beachtlichem Equipment. Sie lassen sich vor einem der monumentalen Bauten oder vor idyllischer Aussicht am Fluss ablichten, während die Gäste auf einer Bank nebenan warten. Die festlichen Schuhe abgestreift, wird lachend Schokolade, Sekt und Wodka gereicht.

Abends treffen wir bei der großen Oper zufällig auf mehrere Limousinenmodelle, die im Fünfminutentakt vorfahren und junge, sehr junge Frauen für ihre Hen Night ausladen. Nacheinander posieren die Grüppchen für das Foto auf der Treppe oder dem Springbrunnen, mit oder ohne weißen und roten Ballons – je nach Arrangement, das sie gebucht haben.

Mit dem Bild der aufgeregten Frauen, die in amerikanischer Manier auf ihre Hochzeit hinfiebern, steigen wir wieder in den Zug, der diesmal von Moskau her kommt und uns in 16 Stunden nach Berlin zurückbringt. Noch einmal blicken wir während Stunden in wildes, saftiges Land.

Ungewöhnlich und sehr sowjetisch

Die wenigen Züge, die uns kreuzen, haben Holz geladen. Die Dörfer flimmern in der Hitze, ab und zu schiebt eine alte Frau ihr Fahrrad aus dem Wald. Auf dem Korridor unseres Wagens erkundigt sich ein Passagier bei einem in Minsk zugestiegenen Mitreisenden: „Und wie ist Minsk?“ – „Ja, interessant. Ungewöhnlich. Noch sehr sowjetisch“, antwortet dieser gedehnt. sichtlich findet er für seine zwiespältigen Eindrücke gerade keine Worte.

Verabschiedet werden wir später in Brest von weißrussischen Soldaten, von denen je nach Lukaschenko-Politik mal mehr, mal weniger an der Grenze arbeiten. Sie schreiten den Schritttempo fahrenden Zug ab und blicken grimmig unter das Fahrgestell. Wenige Meter nach der Brücke über den Bug empfangen uns zahlreiche Überwachungskameras an jedem Pfosten. Die EU-Grenzer kommen im Akkord vorbei: Der Erste fragt nach den Papieren, der Zweite nach Zollgut, der Dritte kommt mit einem Hund und der Vierte scheucht uns von der Bank, um diese so gewissenhaft grob hochzuklappen, dass sich eine Schraube löst. Jetzt auf der Rückfahrt scheint uns das knapp dreistündige Grenzprocedere inklusive Radwechsel als wirklich geeignete Ouvertüre für eine Reise in diesen konservierten Osten, der Beklemmung und Befremden nicht nur bei uns auslöst.

Die 85 Millimeter Unterschied zwischen mitteleuropäischer Regelspurweite und russischer Breitspur sind beim Rangieren in der Halle von Brest kaum erkennbar, doch damit geraten wir nun nicht nur wieder zurück in eine andere Zeitzone, sondern auch wieder nach Europa. Kaum ruckelt der Zug los, kommen die Menschen wieder aus ihren Abteilen. Wird die Nervosität durch fröhliches Gelächter abgelöst und suchen die Passagiere in der heißen Zugluft nach kühlen Getränken – die allerdings erst in Warschau in dem frisch angehängten Speisewagen erhältlich sein werden.