Der König liebt sein Volk

HERRSCHAFT In Marokko darf die Generation Facebook demonstrieren. Trotzdem scheitert sie an der Monarchie

 Der König: Er ist Oberbefehlshaber der Armee, benennt den Regierungschef und den Präsidenten des obersten Gerichtshofs. Marokko ist offiziell eine konstitutionelle Monarchie, doch die Verfassung änderte bislang nur der König.

 Die Jugend: Bei den Reformen darf das Volk nur abstimmen – nicht mitbestimmen. Das wollen die Jugendlichen von Marokko nicht mehr und fordern eine neue Verfassung. Am 20. März wollen sie wieder auf die Straße gehen.

VON KHALID EL KAOUTIT

Der neue König ist ein sehr guter König. Er liebt sein Volk“, meinte der junge Taxifahrer. „Wenn er unsere Stadt besucht, fährt er seinen Ferrari ganz normal durch die Straßen. Wie jeder andere Bürger auch“, fügte er hinzu und suchte den Blickkontakt im Rückspiegel.

Es war Mitte Januar. Nur ein Paar Tage zuvor hatten die Tunesier es geschafft, den ehemaligen Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali nach fast fünfundzwanzig Jahren Alleinherrschaft zu entmachten. In Ägypten brodelte es. Die Taxifahrt durch die Nacht, in einem alten hellblauen Mercedes mit Dieselmotor, ging in das Rif-Gebirge im Norden Marokkos. Und dort war alles ruhig. So ruhig, dass ich fast eingeschlafen war. Nur eine weibliche melancholische Stimme aus dem alten Autoradio durchbrach die Stille der Nacht. Eine lokale Berühmtheit sang über das Glück der Liebe, die Schmerzen des Verlassenwerdens und über die schönen Berge und Strände der Heimat.

Unerwartet war diese äußere Ruhe. Innerlich war ich sehr aufgeregt. Nach sieben Jahren war es meine erste Reise nach Marokko – dem Land, in dem ich aufgewachsen bin. Das war zu der Zeit, als noch der alte König, der Vater des jetzigen, an der Macht war.

Dieser hatte sich mit Hilfe der Peitsche und ganz ohne Zuckerbrot oben gehalten. Das Land war für ihn in zwei Kategorien geteilt: das nützliche und das unnütze Marokko. Zu der letzten Kategorie gehörte auch der Norden des Landes mit seinem unpassierbaren und wenig fruchtbaren Rif-Gebirge. Die Heimat meiner Familie und des Taxifahrers.

Langsam steuert er den alten Wagen über die zweispurige, neugebaute Straße in Richtung der Hafenstadt Al Hoceima, dem Ziel der Taxifahrt. Diese Strecke ist Teil einer noch im Bau befindlichen Nationalstraße, die parallel zur Mittelmeerküste verläuft und die Stadt Saidia, an der Grenze zu Algerien, mit Tanger verbinden soll. Sie ist der Stolz der Region. „Wenn der neue König nicht wäre, hätten wir diese Straße nicht bekommen“, sagt der Taxifahrer.

Es scheint so, als ob der neue König diese Region durchaus als nützlich betrachtet. Auch wenn diese Straße zum Teil von der EU finanziert wurde, um illegaler Einwanderung und dem Anbau von Cannabis, der Haupteinnahmequelle dieser Region, entgegenzuwirken. Im Gegensatz zu seinem Vater, der hier über dreißig Jahre keinen Fuß hinsetzte, besucht Mohamed der Sechste die Städte des Rif-Gebirges regelmäßig – als Zeichen seiner Volksnähe.

Doch trotz der regelmäßigen Besuche des Königs hat sich in den letzten Jahren sehr wenig verändert, wie ich feststellen musste, nachdem ich die Reise mit dem Bus in Richtung Chefchaouen fortsetzte, um das Stammdorf meiner Familie zu besuchen. Die Leute bauen nach wie vor Cannabis an, nicht alle Kinder im Schulalter besuchen die Schule und die meisten meiner Cousins haben keine eigene Existenz außerhalb des Elternhauses, in dem sie trotz zunehmender Geheimratsecken und Glatzen immer noch leben. Sie können sich keine Heirat leisten, keine eigene Familie gründen. Das ist ihr Traum, doch dieser könnte nur in Erfüllung gehen, wenn sie nach Europa auswanderten. Aber auch in den Großstädten ist die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen nach wie vor sehr groß. Laut Statistik ist jeder fünfte arbeitslos. Das gilt auch für Akademiker.

Diese arbeitslosen Akademiker waren es, die Ende der Neunziger die Demonstrationskultur von der Universität auf die Straße getragen hatten. Damals, noch unter dem alten König, wurden Demonstrationen eigentlich nur innerhalb des Universitäts-Campus geduldet. Als dann Mohamed der Sechste den Thron bestieg, gehörten die Demos der arbeitslosen Akademiker bereits zum normalen Straßenbild in den Großstädten. Oftmals wurden sie von der Polizei niedergeknüppelt. Doch sie ganz verschwinden zu lassen, das hatte die Staatsmacht nie geschafft. So entstand in Marokko ein Raum für Meinungsfreiheit, den es in den Nachbarländern wie Tunesien oder Ägypten höchstens im Internet gab.

Für den Taxifahrer ist dieser Freiraum ein Geschenk des Königs – ein Beweis dafür, dass „der König sein Volk liebt“, und für das Vertrauen zwischen dem Volk und dem Königshaus. Deshalb „fährt der König seinen Ferrari ganz normal durch die Straßen, wie jeder andere Bürger auch“.

Natürlich darf man seine Meinung äußern, solange der König nicht negativ von dieser Meinung betroffen ist. Der Taxifahrer kennt diese Regel, und auch die Demonstrierenden halten sich daran. Sie müssen, wenn sie nicht von der Polizei angegriffen werden wollen. Diese Pseudo-Demonstrations- und -Meinungsfreiheit sei in den letzten zehn Jahren sehr stark ausgereizt worden, erfahre ich von einem ehemaligen Kommilitonen, der jede Hoffnung auf Veränderung verloren hat und letztes Jahr nach Kanada ausgewandert ist. So wie ich seinerzeit, als ich nach Deutschland ging. „Man hat die Hoffnung verloren, überhaupt irgendetwas durch Demos zu bewirken. Es ist zu keinen nennenswerten Reformen gekommen“, schreibt er mir – auf Facebook. Als am 20. Februar eine Facebook-Gruppe, ähnlich wie in Tunesien oder Ägypten, zu Demos aufgerufen hatte, war die Resonanz in Marokko nicht so groß. Trotzdem zögerte die Staatsgewalt keinen Moment, brutal gegen die Demonstranten vorzugehen. Meine Cousins im Rif-Gebirge hat der Aufruf gar nicht erreicht. Es wäre sowieso keiner von ihnen auf die Straße gegangen.

Dennoch will die Gruppe, die sich „die Bewegung 20. Februar“ nennt, weitermachen. Die Diskussionen auf Facebook lassen darauf schließen, dass dieser Jugendbewegung bewusst ist, dass sie den König, den nicht alle lieben, aber auch nicht wirklich hassen können, nicht wegjagen können. Sie wollen stattdessen das Parlament neu wählen und wollen eine neue Verfassung, die vom Volk ausgeht, Gewaltenteilung garantiert und die Zuständigkeiten des Königshauses einschränkt.

Anfang März kündigte Mohamed der Sechste Reformen an – wieder ein „Geschenk des Herrschers an seine Untertanen“. Vier Tage später sind die Menschen auf die Straße gegangen, die Polizei reagierte wie immer mit Schlagstöcken und Knüppeln. Dennoch ist der nächste Demo-Termin schon angekündigt: der 20. März.

Vielleicht erreicht diese Bewegung doch, dass der Bürger ganz normal durch die Straßen gehen oder, warum auch nicht, seinen Ferrari fahren kann, wie jeder andere König auch.