Sicherheitsmaßnahmen

Per Petterson schreibt eine nüchterne Prosa, die keine Rücksichten auf Peinlichkeiten nimmt. In dem Roman „Im Kielwasser“ beschreibt er ohne Larmoyanz eine schwere Lebenskrise

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Ein Mann ist außer sich, steht neben sich. Schaut sich selbst zu, begreift, was vor sich geht, und kann es doch nicht ändern. Er hat getrunken am Vorabend, aber er erinnert sich nicht mehr an Details. Sein Gesicht ist geschwollen, er hat Schmerzen und ist überzeugt, dass er Krebs hat. Er steht vor der Schaufensterscheibe des Ladens, in dem er schon lange nicht mehr arbeitet, presst seinen Kopf an das Glas. Arvid heißt der Mann, ist 43 Jahre alt und Schriftsteller von Beruf. Etwas hat sein Leben aus der Bahn geworfen; eine Katastrophe, die weitere Katastrophen nach sich zog. Arvids Existenz bewegt sich auf einer schiefen Ebene und droht endgültig zu kippen.

Am 7. April 1990 brach auf der „Scandinavian Star“, die im Fährverkehr zwischen Oslo und dem dänischen Frederikshavn im Einsatz war, ein Feuer aus. Die Sicherheitsmaßnahmen waren unzureichend, das Feuer breitete sich schnell aus. 158 Passagiere kamen ums Leben, darunter auch die Eltern und zwei Geschwister des norwegischen Schriftstellers Per Petterson. Diesen Schluss jedenfalls kann man ziehen, wenn man dessen Aussagen bezüglich des autobiografischen Hintergrundes seines Romans „Im Kielwasser“ heranzieht. Auch Arvid, seine Romanfigur, hat den Großteil seiner Familie auf der „Scandinavian Star“ verloren. Dennoch erweckt dieses Buch zu keinem Zeitpunkt den Anschein, es handele sich um ein therapeutisch-selbstbefreiendes Projekt des Autors. Es ist mehr: schonungslose und aufwühlende Literatur.

Sechs Jahre ist das Unglück zum Zeitpunkt der Erzählung nun vergangen, und alles, was Arvid geblieben ist, nachdem auch seine Frau ihn verlassen und die beiden Töchter mitgenommen hat, ist ein Bruder. Und die Erinnerung. Die bricht sich immer wieder mit aller Macht Bahn in Arvids unsortierte Tage, in denen die Welt in Einzelteile zu zerfallen scheint, zersprungen ist in Partikel, die sich nicht zusammenfügen lassen wollen. Ein zweifacher Verlust ist es, von dem Per Petterson erzählt – jener der nächsten Verwandten einerseits und jener einer konsistenten Wahrnehmung, einer Sinnhaftigkeit des Daseins andererseits. „Ich würde alldem gern ein Ende bereiten“, denkt Arvid, „ich hielt es nicht länger aus. Wollte nicht mehr daran denken.“ Überhaupt wird oft gedacht und wenig ausgesprochen; dafür geschieht ziemlich viel, was sich immer erst im Nachhinein erklären lässt: Arvids scheinbar ziellose Fahrten, seine Teilnahmslosigkeit. Jedes Engagement, das er einst gezeigt hatte in der Hoffnung auf veränderbare Umstände, ist verpufft. Arvids Leiden trägt die Züge einer Groteske, die sich auf das Körperliche ausdehnt – unzählige Male muss er sich übergeben. Das ist erbärmlich, und das weiß Arvid auch selbst, was es nicht besser macht.

„Im Kielwasser“ hat eine zweite Hauptfigur: den verstorbenen Vater, ein übermächtiger Charakter; ein Mensch, den man nicht lieben konnte in seiner körperlichen Stärke und Angst einflößenden Selbstdisziplin. Zu ihm schweifen Arvids Gedanken immer wieder, bruchstückhaft tauchen Erinnerungen auf an gemeinsame Ferienaufenthalte, an Häuser, Ereignisse, Ausflüge, der Leistungsgedanke stets im Vordergrund; die Angst vor dem Versagen stets präsent. Eine trügerische Idylle in einer beeindruckend schönen Landschaft, die Petterson gekonnt in einer schnörkellosen und unpathetischen Sprache heraufbeschwört. Das Verfahren, Landschaft, Menschen und Vergangenheit zu einem Tableau zu verbinden, kennt man schon aus Pettersons vorangegangenem Roman „Pferde stehlen“; hier dient es als Kontrast.

„Im Kielwasser“ hält gekonnt die Balance – keine Larmoyanz durchzieht den Roman und auch nicht die Faszination für das Elend. Es ist eine erstaunlich nüchterne, analytische Prosa, die keine Rücksicht nimmt auf Peinlichkeiten und Bloßstellungen und die passagenweise eben deshalb umso erschreckender wirkt. Der Riss zwischen Arvid und seinem Dasein, zwischen ihm und seinen Kindern, zwischen ihm und der Frau, mit der er ein Verhältnis beginnt, ist kaum zu überbrücken, auch weil mit dem Vater die Reibungsfläche verloren gegangen ist, an der sich Ideen entzünden lassen konnten; das Gegenstück, das dennoch Orientierung geboten hat. Dass es eine tiefe Enttäuschung war, die den Vater möglicherweise zu dem hat werden lassen, was er ist, erfährt Arvid erst spät.

Am Ende schimmert möglicherweise dann doch so etwas wie Hoffnung durch Pettersons beklemmenden Roman. Nach einer Prügelei mit dem Bruder sitzen die beiden zusammen und wundern sich. „Eigentlich gefällt es mir so, wie es ist: gereinigt und auf null gestellt“, sagt der Bruder, und Arvid antwortet: „Willkommen im Club.“ Aus dem Kopfhörer tönt ein Lied: „I’ve been to hell, and now I’m back again. I feel all right.“ Ob das mehr ist als nur ein verzweifeltes Pfeifen im Wald, ist unsicher. Sicher ist: Petterson hat mit „Pferde stehlen“ und nun mit „Im Kielwasser“ binnen kurzer Zeit zwei großartige Romane vorgelegt. Das kann kein Zufall mehr sein.

Per Petterson: „Im Kielwasser“. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Carl Hanser Verlag, München 2007, 190 Seiten, 19,90 Euro