Die Frau von der Triebabfuhr

Die 28-jährige Studentin Ariadne von Schirach hat ein pornografisches Buch gegen die Pornografisierung der Gesellschaft geschrieben. Wir haben sie in Berlin getroffen und versucht, dieses Paradox aufzulösen

VON ERIK HEIER

Sollte der Leser ein Problem mit expliziten Formulierungen haben, möge er bitte für den nächsten Absatz aus dem Artikel aussteigen. Geht wirklich schnell.

Also dann. Geile Hintern, Ärsche, Titten. Hit-and-fuck. Blow-Jobs, Arschfick. Oversexed, underfucked. Schlampen. Hotte Elsen, geile Schnecken, scharfe Weiber.

So weit dazu. Alles wieder einsteigen, bitte. Danke.

Das musste jetzt leider sein. Derart liest sich nämlich die bevorzugte Wortwahl des Buches „Der Tanz um die Lust“ einer jungen Frau namens Ariadne von Schirach. Das erscheint dieser Tage bei Goldmann. Ariadne von Schirach, 28, studiert Philosophie, Psychologie und Soziologie an der Berliner Humboldt-Universität. In ihrem Buch geht es vor allem um Pornografie. Nein: gegen Pornografie. Aber im heftigsten Pornoduktus. Siehe oben. Das irritiert erheblich, liest sich aber prima.

Alles flott, formulierungswild, manchmal richtig schön sinnlich. Und thesenwütig.

„Triebabfuhr“, wird gleich zu Beginn deklariert, „ist das Gebot der Stunde.“ Das elfte vielleicht?

Was für ein seltsames Werk.

Für das Gespräch hat Ariadne von Schirach das Café „Bötzow privat“ vorgeschlagen. Berlins Mitte ist dort richtig reiseführerhip, die Touristen- und Nuttenmeile Oranienburger Straße liegt in Hörweite. An diesem Nachmittag döst das Café vor sich hin. Der Tisch ist klein, man sitzt eng beieinander dort.

Ariadne von Schirach versteht es jedoch trefflich, subtil Distanz aufrechtzuerhalten. Geht es um Pornografie, formuliert sie präzise, originell, mit scharfer Intelligenz. Sobald man aber persönlich wird, entzieht sie sich. Immerhin schreibt sie ja als Ich-Erzählerin.

Irgendwie bleibt sie unfassbar. Vor knapp eineinhalb Jahren erschien ein Artikel von ihr im Spiegel. Munter fabulierte sie sich darin reichlich Frust von der Seele. Frust am Einzug der Pornoästhetik in Konsum, Mode, Pop. An der schwindenden Lust an der Fortpflanzung wegen heruntergelassener Hosen vor dem Computer. All so was. „Und entweder onanieren wir bis zum Tennisarm, oder wir müssen an unserer Sexyness arbeiten. Doch es geht um mehr. Ums Überleben.“

Das sind halt so Thesen.

Gleich darauf kamen Angebote für ein Buch zum Thema. Es ist ihr erstes. Vorläufig musste die Magisterarbeit dran glauben. Da geht sie jetzt ran. Sie schreibt über die koreanische Identitätskünstlerin Nikki S. Lee, die in New York lebt.

Zuvor war Ariadne von Schirach als Autorin kaum aufgefallen Eine Kurzgeschichte, ein Artikel in einem Magazin, das Freunde produzieren. So weit, so wenig. Gemeinhin kriegt man so nicht unbedingt vier Seiten im Spiegel, obendrein mit Foto.

„Ist das denn so wichtig?“ Sie kraust ihre Stirn. Unwilliges Kopfschütteln. Ihre langen Ohrringe klimpern. Die mehrmalige Nachfrage mag sie überhaupt nicht. Sie weiß, wieso. Kurz nach dem Erscheinen des Spiegel-Textes hatte die Titanic über den Einfluss ihres vermeintlichen Knackhinterns auf dem Weg in das so genannte Nachrichtenmagazin räsoniert.

Das war wirklich bitterböse.

Dabei habe doch nur der oft zum Erfinder der Popliteratur berufene Joachim Lottmann ihren Essay an Matthias Matussek weitergeleitet. Hart gearbeitet habe sie an dem Text, ihn umgeschrieben, wieder und wieder.

Von wegen Knackhintern.

Matussek hatte damals gerade das Kulturressort des Spiegels übernommen. In seiner letztjährigen Neonationalismusfibel „Wir Deutschen“ nennt er Ariadne von Schirach schwer verzückt die „so unglaublich lebendige, blonde, kluge Sirene“.

Ein paar Zeilen südlicher freilich gemahnt ihn ihr Aussehen an ein Poster-Girl für den BDM. Damit ist nicht der Bundesverband Deutscher Milchviehhalter gemeint, sondern der Bund Deutscher Mädel des Dritten Reiches. „Vielleicht liegt es an ihrem Namen. Sie ist die Enkelin von Baldur von Schirach, dem Reichsjugendführer und Gründer der HJ.“

Vielleicht, klar, sicher.

„Ich trage diesen Namen“, sagt Ariadne von Schirach. „Es ist legitim, danach zu fragen.“

Machen wir es also kurz mit Baldur von Schirach. Der sei für sie niemals ein Tabu gewesen, sagt sie. Das Wissen über seine Kriegsverbrechen war in der Familie immer verfügbar. Ihr Vater Richard hat ein sehr kluges Buch über die Auseinandersetzung mit Baldur geschrieben.

Ariadne von Schirach selbst wurde in München geboren. Ihre Mutter ist Schweizerin, dementsprechend changiert ihr Dialekt. Die Familie ist weit verzweigt. In Berlin findet man zum Beispiel einen Rechtsanwalt, in den USA einen angesagten DJ. Zweimal flog sie in Bayern aus Internaten raus. Undiszipliniertheit im Gottesdienst, und Kiffen. In München begann sie ihr Studium, vor sechseinhalb Jahren zog sie nach Berlin. Reiste mal nach Südamerika, lebte ein Jahr in Barcelona.

Alles nicht so aufregend.

Aber zeitgeistig, das schon. Berlin, Berlin. So ist auch der Sound ihres Buches. Reihenweise übliche Verdächtige für den Hauptstadt-Hype. Die Clubs, die Bars. Das „Cookies“ kommt vor, das „103“ auch. Das „Big Eden“ nicht. Und dann die Leute. Da gibt es keine Beamten, keine Maurer, keine Busfahrer. Stattdessen Videokünstler, DJs, Models. Ein Journalist ist auch dabei, immerhin. Jedenfalls meist Freiberufler.

Wir sind ja so frei. Frei von festen Einkommen, frei von wirklichen existenziellen Nöten. Digitale Boheme. Wir nennen es Arbeit. Holm Friebe lässt grüßen.

Bei der Sekundärliteratur, die die Vielleserin vor allem in der ersten Buchhälfte meist kurz zitiert, wird man das Gefühl nicht los, sie wollte vor allem zeigen: Hab das Zeug gelesen, ehrlich. Jörg Metelmanns Reader „Porno Pop“, Ulf Poschardts „Cool“, Martin Amis’ „Pornoland“, unvermeidlicherweise viel Michel Houellebecq. Walter Benjamin aber auch.

Das musste alles in ihre hochtourige Gedankenmaschine. Dazu reichlich Google. Dann dreimal gut durchgerührt. Was unten rauskommt, ist alles pornoinfiziert, mehr oder minder.

Der Pornostar Jenna Jameson modelt in einem Magazin und sieht darin genauso aus wie die übrigen Models. Popsternchen gleichen Pornosternchen. Eine sexuelle Porno-Elite droht. Frauen wollen Macht über Männer und verwandeln sich in fleischgewordene feuchte Träume.

Sex ist die Antwort auf alle unsere Fragen. Falls jemand fragt.

Wenn also Porno aus der Schmuddelecke heraustritt, in unsere Lebenswirklichkeit eindringt, dann ist das die pornografische Strategie. Von wem auch immer.

Neu ist ihre Sichtweise natürlich nicht. Elvis Presleys Hüftenschwung war auch Sex. Am Ende landete er bekanntlich in Las Vegas. Im Mainstream. Die „Porno sells“-Marketingstrategie ist womöglich einfach eine weitere Eskalierung von „Sex sells“.

Dabei bleibt das Buch keinesfalls ein Aufguss der „PorNo-Kampagne“, die just vor 30 Jahren Alice Schwarzers Emma gegen die Frauenerniedrigung in den Sexfilmen lostrat. Bei Ariadne von Schirach sind eher die Männer die armen Säue. Die bringen es nicht. Lost in Pornoland. Manche, nicht alle. Denn Porno ist ambivalent. Ihr Buch ist es auch.

Gibt es denn wirklich keinen wahren Sex im falschen? Ist Liebe nur eine vage Möglichkeit? Oder, wie sie schreibt, nicht mehr als „das letzte große Versprechen“?

Mit derlei Reflexionen im Rücken seziert Ariadne von Schirach das Nachtleben von Leuten kurz vor dem Lebensabschnitt, in dem es ernst werden müsste: mit dem Job, mit einer Beziehung, einer Familie. Aus ihrem Freundeskreis destilliert sie pointierte Dialoge, fast eine Soap in Buchform, „Sex in the Berlin-City“. Ihren Protagonisten verabreicht sie Fantasienamen. Die würden jeden Porno verschönen. Ein etwas älterer Journalist heißt König Gunter, die allzeit bereite SusiPop ist eine Art weiblicher Chauvi, dazu eine „Eisprinzessin“.

Das liest sich dann wie eine Reportage, ist aber eher eine Kolportage. Essayistische Notizen vom Tresengelaber auf schwankendem Niveau. Ist das noch ein Sachbuch? Keine Ahnung. Aber es kommt zur Sache.

Man redet vor allem über das Jagen. So nennt sie das Scannen, Abschleppen, Nichtabschleppen. Ist schon übel, diese Postadoleszenz. So wirre.

Da beobachtet Ariadne von Schirach zum Beispiel merklich verstört „Männer bei der Selbstkastration“. Oder Frauen, die sich in Nutten verwandeln und „T-Shirts tragen, auf denen ,Schlampe‘ steht. Und dafür noch nicht einmal gefickt werden“. Das sind wahrlich schlimme Aussichten. Die Hamburger Band Kettcar hat das mal so ähnlich gesungen.

Man kann es aber auch mit Lottmann sagen: In der Jugend von heute wird einfach zu viel im Kopf gebohnert und zu wenig mit dem Unterleib.

So ist das Buch gegen Ende, wenn aller wilder Thesenüberbau abgearbeitet ist, die melancholische Bilanz eines Abschieds. Des Abschied von einer Jugend, in der alles möglich schien und Spaß über allem stand. Eines Abschieds, den man immer weiter vor sich hin schiebt. Das könnte vor allem ein Berlinphänomen sein. Wegen der Fluchtwege vor dem Erwachsenwerden, die diese Stadt öffnet wie keine andere im Land.

Ariadne von Schirach verspürt keinerlei Lust, jetzt in Talkshows als Pornoexpertin aufzutreten. Die Anfragen aber werden kommen.

Denn sie tritt mit ihrem Buch selbst sehr offen ans Fenster der Selbstentblößung. Seid willkommen, ihr Voyeure. Die Ich-Erzählerin, so liest man, geht gern aus, hadert mit ihren Brüsten und ihrem Bauch, ballert sich schon mal einen Drink zu viel rein, ist im Abschleppen erschütternd erfolglos. Die Autorin freilich zieht im Gespräch die Jalousien wieder runter. Man dürfe das nicht eins zu eins auf die tatsächliche Ariadne von Schirach übertragen: „Ich exponiere einen Teil von mir. Aber nur einen Teil.“

Deshalb lassen diese eineinhalb kurzweiligen Interviewstunden den Gesprächspartner am Ende etwas ratlos zurück. Dann verabschiedet sich Ariadne von Schirach. Freundlich, fast herzlich, mit warmer Stimme. Sie schlingt ihren Schal um den Hals, der schwarz ist wie ihr gesamtes Outfit und die blonden Haare unaufdringlich zur Geltung bringt. Ihr Blond ist eher dunkel, nicht drastisch. Nicht pornogrell.

Von Natur hat Ariadne von Schirach übrigens braune Haare.