Was vom Kunden übrig blieb

RESTE Überall werden Lebensmittel vernichtet. Ein Meisterkoch zeigt Kindern, was sie dagegen machen können

Kürbisse, Zwiebeln, Tomaten, gespendet von der Berliner Tafel – die Schüler wuschen, schälten und schnippelten alles selbst, rührten die Soße und schmeckten auch ab. Am Ende tafelten alle gemeinsam an langen Tischen

VON TILL EHRLICH

Es sind Bilder, die haften bleiben: Zwei sportliche, keineswegs arm aussehende junge Männer radeln in einer Sommernacht durch die Altstadt von Wien. Ihr Ziel sind die Mülltonnen der Supermärkte. Die „Mülltaucher“ Robert und Gerhard fischen makellose, gut verpackte Lebensmittel wie lila Rettiche, Orangen, Marillen, Olivenöl, Dinkelbrot aus den Abfallcontainern, die Lebensmittel nehmen sie mit nach Hause und kochen sich daraus später ein Essen.

Robert und Gerhard ernähren sich seit Jahren so. Nicht um zu sparen, sondern aus Protest gegen das sinnlose Wegschmeißen essbarer Lebensmittel. Sie möchten ihren ganz persönlichen Beitrag gegen den weltweiten Hunger leisten, indem sie weniger konsumieren. „Es ist die totale Entwertung der Lebensmittel, was die Supermärkte hier betreiben“ sagt Robert.

Mit dieser Szene beginnt „Taste the Waste“, ein drastischer Dokumentarfilm von Valentin Thurn. Beim Anschauen schlägt der Ekel, den das Wühlen in Mülltonnen auslöst, in Wut um. Vergangene Woche war er auf der Berlinale zu sehen, die seit fünf Jahren mit ihrem „Kulinarischen Kino“ Pionierarbeit leistet. So, wie es Anspruch des Festivals ist, Filme jenseits des Mainstreams zu zeigen, will es auch die Vielfalt in der Ernährung jenseits des kulinarischen Mainstreams, also von Industriefood, zeigen. Dazu gehört auch ein Bildungsprogramm, bei dem es darum geht, die Nähe zurückzugewinnen, die vor allem Jugendliche zum Kochen und zu den Lebensmitteln weitgehend verloren und an die Foodindustrie abgegeben haben. Seit zwei Jahren gibt es daher während des Festivals einen Tag, der sich speziell an Jugendliche richtet.

Küche statt Klassenraum

Dieses Jahr kamen Schüler der siebten und achten Klasse aus zwei Berliner Gymnasien und einer Integrierten Sekundarschule, um gemeinsam den Dokumentarfilm „Taste the Waste“ anzuschauen und danach über die Wertschätzung von Lebensmitteln und deren systematische Vernichtung zu diskutieren. An dem Gespräch nahmen Regisseur Valentin Thurn teil, der Kochaktivist Wam Kat sowie Spitzenkoch Michael Hoffmann und seine Frau Kathrin Hoffmann vom Restaurant Margaux in Berlin. Außerdem Vertreter der Berliner Tafel, von Slow Food, Youth Food Movement, Greenpeace und der Stadtgarten-Initative „Prinzessinnengärten“ aus Berlin-Kreuzberg.

Während die meisten der Schüler den Film anschauten, kochte Michael Hoffmann schon mit acht Schülern ein kleines „Zufallsmenü“ aus „Zufallsgemüse“, also solchem, das die Berliner Tafel an diesem Tag spenden konnte: Kürbisse, Zwiebeln, Tomaten und Obst. Heraus kam ein Sugo mit Amaretti und Parmesan, zu dem Nudeln gekocht wurden. Die Schüler wuschen, schälten und schnippelten alles selbst, rührten die Tomatensoße und schmeckten auch selbst ab. Dazu gab es Süßigkeiten wie Pancotta und Grießflammerie. Die Veranstaltung endete mit dem gemeinsamen Essen an langen Tafeln. Er sei zuvor etwas aufgeregt gewesen, sagte der Profikoch, aber „die Schüler waren sehr offen, nicht oberflächlich, sie interessierten sich wirklich für das Kochen.“

Michael Hoffmann, der in den letzten Jahren eine ausgefeilte Gemüseküche entwickelt hat und selbst einen großen Garten betreibt, der sein Restaurant mit frischem Gemüse und Kräutern versorgt, stand Pate für das vom Leiter des Kulinarischen Kinos, Thomas Struck, formulierte Anliegen: „Wir glauben, es wäre toll, wenn es in den Schulen dieselbe Verbindung gäbe, wie es sie bei Michael Hoffmann zwischen Garten und Küche gibt. In den Schulen könnte das zubereitet und gegessen werden, was im Schulgarten angebaut wurde.“

Die Schüler haben gesehen, worum es geht. In ruhigen Bildern zeigt „Taste the Waste“ die weltweite Praxis des Wegschmeißens von noch genießbaren Lebensmitteln oder der Auslese des nicht Normgerechten. Seien es die Tomaten von amerikanischen Farmen, die vom Farbscanner der Handelsketten nicht anerkannt werden, oder die Kartoffeln, die in Deutschland auf dem Acker liegen bleiben, weil sie zu klein sind oder zu dick für die Handelsnorm. Seien es krumme Gurken oder Brot, das im Überfluss gebacken wird, damit die Regale im Supermarkt bis abends um 22 Uhr prall gefüllt aussehen. Man sieht Orangenkisten auf dem Pariser Großmarkt und frischen Fisch in Japan, aber auch New Yorker Dachgärten, auf denen Gemüse angebaut wird. Oder eine Kooperativen in Arizona, die frisches Biogemüse direkt vermarktet. Die Kunden kennen vieles gar nicht mehr, sie müssen Kochbücher aus den 1960er Jahren zurate ziehen, um zu erfahren, wie sie das Gemüse zubereiten können.

Eine Szene zeigt einen riesigen Pariser Supermarkt. Dort checkt der Verkäufer Alexandre Tschann die Regale, sortiert Hähnchen, Käse, Milch und Joghurt aus. Sein Job ist, sechs Tage vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums alle Lebensmittel wegzuschmeißen. „Das entscheiden nicht wir“, sagt er, „sondern die Kunden. Wenn sie sehen, dass der Joghurt bald abgelaufen ist, werden sie ihn nicht nehmen. Da ist es besser, wir werfen ihn direkt in den Müll.“ 550 Tonnen essbare Lebensmittel schmeißt dieser eine Supermarkt pro Jahr weg, eine Müllpresse komprimiert, zerstampft und zerstört sie. Am Ende landet alles in einem Stahlcontainer, aus dem braune Flüssigkeit tropft.

Angesichts von so viel Verschwendung und Missachtung von Lebensmitteln entwickelte sich eine lebhafte Diskussion mit den Schülern. Sie fragten vor allem, was sie selbst tun können und wie ernst sie das aufgedruckte Mindesthaltbarkeitsdatum künftig nehmen sollen. „Vertraut mehr euren Sinnen“, riet Jürgen Knirsch von Greenpeace, „früher haben wir geschmeckt, gerochen, ob Lebensmittel noch gut waren. Heute haben wir unsere Sinne abgegeben und gucken auf so einen kleinen Stempel auf der Verpackung.“

Riecht es, schmeckt es!

„Das Wegschmeißen fängt doch schon beim Einkaufen an“, erklärte Wam Kat, „wir leben nicht im Kriegszustand, wir müssen Essen nicht horten.“ Und Marco Clausen von den Prinzessinen-Gärten sagte: „Echtes Gemüse ist nicht abgepackt, es wächst in der Erde. Es sieht auch nicht alles gleich aus. Es braucht Zeit, man muss es pflegen und gießen. Manchmal geht auch etwas kaputt. Wir hoffen, dass ihr, wenn ihr mitmacht, eine andere Haltung dazu findet.“

Ob die Ratschläge bei den SchülerInnen mit jener Wucht ankam, die es braucht, um eingeschliffene Gewohnheiten zu verändern, war schwer einzuschätzen. Der Generationenunterschied und die damit einhergehenden unterschiedlichen Vorstellungen von Geschmack kamen nur wenig zur Sprache. Die Schlussstatements der Experten lauteten: bewusst einkaufen – frische Lebensmittel von Direktvermarktern bevorzugen – selber kochen – nicht von Werbung blenden lassen.

Alles alte Gedanken? Ja, aber letztlich kann man nur aus der Nähe zu den Sachen ein eigenes Urteil und Feeling entwickeln. Selbst wenn man nicht in eine differenzierte Geschmacks- und Esskultur hineingewachsen ist, kann man sich doch dahin auf den Weg machen und seinen eigenen Anfang finden, sei es im Schulgarten oder beim gemeinsamen Kochen.

Jede Aneignung beginnt damit, dass man Unterschiede entdeckt, sich für neue Wahrnehmungen öffnet und sich selbst dadurch verändert. Und wenn es dann auch noch schmeckt, bekommt das Essen einen neuen Sinn.