Sie nennen ihn Machine Gun

AUSNAHMEMUSIKER Er ist der radikalste Vertreter des Freejazz – der Saxofonist Peter Brötzmann feiert seinen 70sten

Der Musiker. Geboren am 6. März 1941 in Remscheid, verheiratet, zwei Kinder. Er hat mehr als hundert Alben solo aufgenommen und in zahlreichen Formationen mitgewirkt. Als seine Highlights gelten „Machine Gun“ (1968), „Nipples“ (1970), „Brötzmann/Van Hove/Bennink“ (1973), „Schwarzwaldfahrt“ (1977), „14 Love Poems“ (1980) und „Black Hole“ (2008).

Der Jubilar. Am Sonntag, 6. 2., spielen Brötzmann & Full Blast im Berliner HAU-Theater. Vom 21. bis 23. 4. gibt es Brötzmann und das Chicago Tentet plus Gäste im Wuppertaler Café Ada.

Der Maler. Ab 8. 4. zeigt er seine Gemälde bei Epikur in Wuppertal.

VON JULIAN WEBER

Freie Improvisation, so hat es einmal der US-Komponist Frederic Rzewski beschrieben, ist wie Müll wegbringen. Was sich angesammelt hat, wandert sofort in die Tonne. Der Platz wird für Neues gebraucht, damit es weitergeht. Ein Vergleich, der Peter Brötzmann gefällt. Er lacht herzhaft, ein kerniges Lachen, energiegeladen wie sein Saxofonspiel. „Ja, beim Improvisieren werde ich einiges los. Meine Art, Tenorsaxofon zu spielen, hat sehr viel damit zu tun, Licks und Töne verschwinden zu lassen. Ab in den Ofen damit!“

Seit fast 50 Jahren lässt Brötzmann Saxofontöne verschwinden. Sein spontanes, auch brachiales Spiel wider die Erwartungen hört auf den Namen Freejazz, und Brötzmann gehört hierzulande zu seinen Pionieren. Den Schritt vom Jazz zum Freejazz könne man nicht an einem Datum oder Ereignis festmachen, sagt er bescheiden.

Und doch waren Brötzmann und seine Freunde Mitte der Sechziger federführend beim Aufbrechen der festgefahrenen musikalischen Formensprache des Jazz. Sie ignorierten Instrumentenhierarchien, traten im Kollektiv auf, was die Intensität der Performance erhöhte und die Songkonventionen von innen aushöhlte. Freejazz war beides, eine soziale und eine musikalische Umwälzung. Und Brötzmann, der damals mit den Besten spielte, tut das heute noch. Er ist keinen Jota von seiner Linie abgewichen, was ihm in jüngster Zeit sehr viele neue junge Fans weltweit beschert hat. Brötzmann war ein Bilderstürmer, und er ist es immer geblieben. Einer, der zahlreiche stilbildende Freejazzalben aufnahm. Einer, der aber auch aus jedem künstlerischen schwarzen Loch wieder heil herausgefunden hat. Der in puncto Ausdrucksweise niemals Kompromisse gemacht hat.

Begonnen hat das alles in Wuppertal, wo der 1941 Geborene seit Jahrzehnten lebt und heute umgeben von Kunstwerken, Büchern und seinen Blasinstrumenten zwei Stockwerke eines schmalen Häuschens im Stadtteil Elberfeld bewohnt, unweit der Schwebebahn. Im Hinterhof liegt ein kleines Studio, in dem er malt und musiziert. In den frühen Sechzigern besuchte Brötzmann die Wuppertaler Werkbundschule.

Ursprünglich wollte er Maler werden, dann studierte er Grafik. In einer Galerie lernte er den Fluxuskünstler Nam Jun Paik kennen und wurde dessen Assistent. Nach Happenings reparierte Brötzmann etwa Paiks präpariertes Klavier. Von dem Koreaner lernte Brötzmann, wie wichtig es ist, in allen Belangen künstlerische Unabhängigkeit zu bewahren, was ihn später in seiner Haltung als Musiker bestärkte.

Im Mutterland des Jazz, den USA, symbolisierte Jazz Mitte der Sechziger das Prinzip Freiheit. Der Kampf der Bürgerrechtsbewegung gegen die Segregation übertrug sich auch auf die musikalische Ästhetik. Diese Signale wurden in Deutschland verstanden, wenngleich den jungen Musikern der damals allgegenwärtige Hard-Bop-Sound musikalisch zu zahm erschien. „Freejazzmusiker wie Ornette Coleman und Albert Ayler lagen uns näher“, so Brötzmann, der auch Konzerte mit diesen Erneuerern organisierte. Nächtelang hing er etwa mit Eric Dolphy ab, hörte zu, fragte, lernte. Der Trompeter Don Cherry gab ihm den Spitznamen „Machine Gun“.

So hieß denn auch Brötzmanns erstes großes Album von 1968, aufgenommen mit einem Oktett. Die Musik ist ein wildes Gemetzel mit vier Tenorsaxofonen, Piano, zwei Bässen, zwei Drums. Sie transportieren die Euphorie jener Zeit, drücken aber auch Wut und Ängste aus. Auf dem von Brötzmann gestalteten Cover ist die Silhouette eines Soldaten mit MG abgebildet. Peter Brötzmann hatte damals in Wuppertal „ein offenes Haus“ und versteckte desertierte GIs. Trotzdem flogen Bierdosen auf die Bühne, wenn er in Frankfurt und Berlin auftrat.

Er galt damals Teilen der Linken als elitär. „Der Muff der Sechziger forcierte uns nur darin, weiterzumachen. Wir hatten ja auch Fragen an unsere Eltern, aber es gab keine Antworten. Man musste sich alles selbst zusammensuchen, eigene Löcher bohren“, beschreibt Brötzmann den Alltag in Westdeutschland. Weil er den Militärdienst verweigerte, was damals rechtlich kompliziert war, wich er nach Amsterdam aus. „Holland war eine Offenbarung. Die Menschen bewegten sich anders, und sie benahmen sich anders. In Deutschland war alles engstirniger. Das ging Karlheinz Stockhausen in seinem Studio für elektronische Musik in Köln nicht anders als uns in unserem blöden Jazzkeller.“

Brötzmann spricht Jazz aus, wie man es schreibt. Jazz. Nicht Dschähs. Er strahlt Gelassenheit aus, spricht ruhig und überlegt. Auf der Bühne ist er konzentriert, hat sich eine Schärfe bewahrt, Lichtjahre entfernt von dem verschnarchten Musiklehrerimage des Jazz. „Ich hatte immer das Gefühl, es geht nicht nur um die Musik, es gibt einen sozialen Auftrag. Es ist eine Sache, die man zusammen macht, in der man gemeinsam entscheidet und durch dick und dünn geht. Klingt vielleicht romantisch, ist aber so.“

Was heute auch im Pop gang und gäbe ist, der Austausch von Musikern über Grenzen hinweg, die Gründung eines unabhängigen Labels, hatte Brötzmann schon Ende der sechziger Jahre betrieben. Und er setzt es fort. Seit mehr als zehn Jahren führt der bald 70-Jährige das Chicago Tentet mit jungen Musikern der dortigen Freejazzszene. Zehn Musiker regelmäßig zu organisieren, sei ohne Subventionen ein kleines Wunder, erklärt Brötzmann stolz. Seit sechs Jahren unterhält Brötzmann zudem ein Trio mit den Schweizer Musikern Michael Wertmüller und Marino Pliakas. Sie nennen sich Full Blast, und ihr Sound entspricht dem, was Brötzmann einst berühmt gemacht hat: Energy-Playing, signalisiert vom dröhnenden Hupen seines Saxofons, das verschlungene Tonketten spielt und scharfe Changes. Nicht ohne das kontrastreiche Anschieben seiner Sidemen, die Instrumente gerne am Anschlag. „Dynamik spielt eine große Rolle. Gerade wenn man so den Lärm lebt, wie ich das tue. Ich liebe es, wenn der Sound klingt, wenn ich die Drums im Rücken spüre. Umso mehr schätze ich, wenn wir leise werden. Beim Freejazz geht es darum, Gedanken und Gefühle woanders hinzubewegen.“ Dieser Dialektik zufolge muss es in einem Brötzmann-Stück anders weitergehen.

Auch in der Musikerkarriere des Peter Brötzmann gab es unterschiedliche Phasen, auch Momente, in denen er ans Aufgeben dachte. „Das gab’s oft, dass ich dachte, jetzt ist Schluss. Jetzt verkaufe ich die Instrumente. Ich hatte ja schon früh Familie. Ohne meine Frau Krista hätte ich das nie durchgehalten.“ Wenn die Engagements fehlten, arbeitete Brötzmann in der Werbung, in einer Brauerei oder in der Schlosserei seines Schwiegervaters.

Bewahrt haben ihn die Kontakte über die westdeutsche Szene hinaus, nach Holland, England, Skandinavien und nach Übersee. „Ich habe sehr viel mit meinen schwarzen Freunden gespielt, und was ich da gemerkt habe, da ging es nicht nur um musikalische Gedanken, da ging es oft darum, wie sie den Tag überleben. Und am besten lief das immer, wenn man sich zusammenschloss.“