Die dritte Phase der Verdrängung

SCHOAH Ein bemerkenswerter Sammelband über die öffentliche „Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus“ zieht eine bittere Bilanz der letzten dreißig Jahre

Die Medialisierung ist letztlich nichts anderes als die zeit- genössische Form des Beschweigens

VON JAN SÜSELBECK

Im Jahr 1979 sahen sich die deutschen Historiker gedemütigt. Im Fernsehen wurde die vierteilige US-Serie „Holocaust“ gesendet und erzielte hohe Einschaltquoten. Darin erlebt man die fast vollständige Auslöschung der assimilierten Arztfamilie Weiss mit, während die ihr gegenübergestellte Familie Dorf die Ermordung der jüdischen Bekannten unterstützt. Plötzlich begriffen die Zuschauer, dass in ihrem Land ganz normale, nette Familien von nebenan deportiert und umgebracht worden waren – während deren ebenso gewöhnliche Nachbarn nichts dagegen unternahmen. Im Gegenteil: Sie profitierten materiell von dem Massenmord.

In „Holocaust“ bekamen die Opfer und die Täter ein konkretes Gesicht. Die Zuschauer hatten plötzlich Empathie entwickelt. Und jetzt wollten sie mehr wissen. Doch die Historiker, die bisher höchstens den deutschen „Widerstand“ gegen den Nationalsozialismus untersucht oder Adolf Hitler als „Verführer“ der Deutschen in den Mittelpunkt ihrer Studien gerückt hatten, konnten ihnen kaum weiterhelfen: Ausgerechnet eine melodramatische US-Serie hatte enthüllt, dass sie bisher das wesentliche Verbrechen des „Dritten Reiches“ sträflich ignoriert hatten. Noch nie wurde diese zeitgeschichtliche Zäsur so ausführlich beleuchtet wie in dem Band „Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre“, den Gerhard Paul und Bernhard Schoßig herausgegeben haben. Die Ausstrahlung von „Holocaust“ begreift Paul als Übergang von der Ära des Beschweigens zur Medialisierung der Schoah. Nach der totalen Verleugnung der Judenvernichtung in den 1950er- und der Anonymisierung der Täter in den 1970er-Jahren – der ersten und der zweiten Phase der Verdrängung – regte die US-Fernsehserie in Deutschland erstmals eine weitreichende gesellschaftliche Beschäftigung mit der Ermordung der europäischen Juden an.

Historikerentmachtung

Der Historiker Frank Bösch streicht die wegweisenden Verdienste dieser Serie besonders eingehend heraus. Bestand sie doch keineswegs aus überzogenen Inszenierungen, wie die deutschen Fachleute seinerzeit meinten, sondern nahm aus heutiger Sicht vieles vorweg, was die Geschichtswissenschaft erst in den 1990er Jahren angesichts der Debatten über die „Wehrmachtsausstellung“ (1995) und Daniel Jonah Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ (1996) endlich eingehender zu interessieren begann. Mehr noch: Bösch erkennt in der US-Serie von 1979 eine äußerst gelungene geschichtsdidaktische „Lektion“. Erst im heutigen Fernsehen diagnostiziert Bösch eine tatsächliche „Entmachtung der Historiker“, da in Serien wie Guido Knopps „Holokaust“ (2000) durch unkommentierte Zeitzeugen-Interviews altbekannte Schutzbehauptungen von Tätern wieder tradiert würden, die man in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre endlich für überwunden gehalten hatte.

Hier schließt sich eine niederschmetternde Erkenntnis an, die eine ganze Reihe von Aufsätzen des Bands immer wieder neu durchbuchstabieren: „Wir befinden uns in der dritten Phase der Verdrängung.“ Seit der Ausstrahlung von „Holocaust“ wüssten „zwar die meisten Deutschen, dass es den Judenmord gegeben hat“, meint der Herausgeber, „sie haben sogar ein Bild von ihm verfügbar, aber sie wissen nicht eigentlich, warum es ihn gab.

Es drängt sich damit der Verdacht auf, dass das Publikum mit Bildern, Bildassoziationen und Randinformationen zu Nationalsozialismus und Holocaust derart zugedröhnt wird, dass es weniger denn je in der Lage ist, ihre Ursache zu begreifen. Oder pointiert formuliert: Die Medialisierung von Nationalsozialismus und Holocaust ist – zumindest aus der Perspektive des kommunikativen Gedächtnisses – letztlich nichts anderes als die zeitgenössische Form des Beschweigens.“

Verkehrung ins Gegenteil

Paradoxerweise habe das hohe Potenzial an identifikatorischer Energie, das die „Troika“ von „Fiktionalisierung, Emotionalisierung und Visualisierung“ seit 1979 in den medialen Erinnerungen an die Schoah zumindest vorübergehend zu provozieren vermochte, letztlich zu einem neuerlichen Verschwinden des Themas aus dem öffentlichen Bewusstsein beigetragen. Der Historiker kritisiert zudem, dass die „Betroffenheit“, die „Holocaust“ einmal angesichts jüdischer Leiden auslöste, heute plötzlich wieder deutschen Opfern gelten soll: Fiktionale Filme wie „Der Untergang“ (2004) und „Die Flucht“ (2007) generierten sich „immer öfter selbst als Quellen, obwohl sie de facto nichts anderes sind als unter dem Deckmantel der Authentizität produzierte Doppelungen zeitgenössischer Propagandamotive“.

Tatsächlich scheint also der immense Fortschritt der Medialisierung, den nicht zuletzt das Internet brachte, wo sich die mühsam zusammengetragenen historischen Fakten jedoch als dekontextualisierte Bilderschnipsel bei YouTube erneut zu zerstreuen drohen, in einen grandiosen geschichtspolitischen Backlash zu münden. Es bleibt dabei: Im deutschen Film und Fernsehen war die Schoah kaum je ein Thema. Und die immense Aufklärung, die Claude Lanzmanns in zwölfjähriger Arbeit entstandenes Oral-History-Dokumentarwerk „Shoah“ 1985 anbot, hat hierzulande bis heute immer noch so gut wie niemand wahrgenommen.

Doch das größte Problem skizziert zuletzt die Beiträgerin Susanne Popp: Dort, wo die historischen Grundlagen vermittelt werden müssten – in der Schule – wird nach wie vor mit Büchern gearbeitet, die den Holocaust vollkommen unzulänglich erklären, wenn nicht gar verharmlosen. Deshalb sollten gerade Geschichtslehrer den Band dringend lesen.

G. Paul/B. Schoßig (Hg.): „Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Nationalsozialismus. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre“. Wallstein Verlag, Göttingen 2010, 205 S., 22 Euro