Für immer, aber ohne dich

Das schöne Charisma eines Machos und Losers: Karin Henkel inszeniert Franz Molnárs Vorstadtlegende „Liliom“ am Stuttgarter Schauspiel. Felix Goeser, Schauspieler des Jahres, spielt den Titelhelden, der bewusst in die Katastrophe steuert, weil der Glaube an Sinn oder einen Weg aus der Misere verloren ist

VON CLAUDIA GASS

Eigentlich hat er schon von Anfang an „keine Lust mehr“. Also legt sich Liliom mit teilnahmsloser Miene vorn an die Rampe der Bühne, während Frau Muskat, seine Arbeitgeberin, und die junge Julie, die ihn unverbrüchlich liebt, auch wenn sie es nie ausspricht, sich lautstark um ihn streiten. Schluss machen für immer sollte man damit, meint Liliom. Das bezieht sich, als die Titelfigur es in den ersten Szenen von Franz Molnárs Stück sagt, zwar vordergründig noch auf den Karussellbetrieb, bei dem der großmäulige Macho als Ausrufer arbeitet. Aber durch Karin Henkels Inszenierung, die am Samstag im Stuttgarter Schauspiel Premiere hatte, zieht sich dieses Bild des Schlussmachens wie ein sublimes Leitmotiv, lange bevor der Titelheld sich die Gurgel durchschneidet.

Für immer – das enthält kein Glücksversprechen mehr, wie es in dem zärtlich-rauen Rio-Reiser-Song „Für immer und dich“ anklingt, als gegen Ende für wenige Minuten tatsächlich ein bunt geschmücktes Karussell auf der vormals leeren Bühne auftaucht und Liliom übermütig darauf herumtollt. Für immer – das ist das endlose Gleiten der Drehbühne, auf der Liliom auch noch kreist, als er vor dem himmlischen Gericht steht. Es lauert in der sich tiefer und tiefer absenkenden Decke, die den Figuren schließlich nur noch das Kriechen erlaubt. Es kreischt schrill im Dauerchor der so genannten anständigen Leute, die den Satz „Aber arbeiten, das kann er nicht“ skandieren, als Liliom bei Frau Muskat rausgeflogen ist. Wie bereits in ihrem gefeierten, zum Theatertreffen eingeladenen Stuttgarter „Platonow“ arbeitet Karin Henkel mit durchdacht, fast unauffällig ins Ganze eingefügten Details. Das fängt bei der Musikauswahl an, setzt sich im Einsatz des sinnfälligen Bühnenbilds von Stefan Mayer fort und gipfelt im genauen Hinhören auf den Text. Dass die Stuttgarter Fassung Molnárs Vorstadtlegende das sanfte österreichische Idiom ausgetrieben hat, verschärft die Brisanz der Geschichte und macht das 1909 uraufgeführte Stück heutiger, ohne platt zu aktualisieren.

Die Regisseurin benötigt kein spektakuläres Konzept, keine verkopfte Textdekonstruktion oder andere gern verwendete Mittel des so genannten Regietheaters, um die Endlosspirale zu veranschaulichen, auf der Lilioms „Sauleben“ endgültig in den Abgrund steuert. Dabei versteht sie es durchaus, Brüche einzubauen. Das geschieht jedoch, ohne dass der Zuschauer emotional aus der Geschichte herauskatapultiert wird. Das Einbinden der im Programmheft als Spezial Guests angekündigten Schauspieler Christian Brey und Elmar Roloff zählt da dazu. Mit deutlichen Anklängen an bekannte TV-Kommissare irrlichtern die zwei in verschiedenen Rollen – von Frau Hollunder und ihrem Sohn Stefan bis zu Himmelsboten – durchs Geschehen.

Karin Henkel vertraut ganz auf ihre Schauspieler. Und das kann sie, nicht nur weil Felix Goeser den Liliom spielt. Der in der Zeitschrift Theater heute zum Schauspieler des Jahres 2006 gekürte Akteur war bereits der nihilistische, von den Frauen umschwärmte Taugenichts Platonow. Auch Molnárs Liliom liegen die Frauen zu Füßen. Das Charisma des Machos und Losers nimmt man Goesers Liliom nicht ganz so ab wie seinem Tschechow-Helden. Die Verletzlichkeit, die Angst vor Gefühlen, die sich unter Lilioms aggressiver Haudrauf-Manier verbergen, das Unvermögen, sich anders zu äußern als mit prolligen Floskeln wie „Halt's Maul“ oder gleich mit Schlägen interpretiert Goeser mit Sprache und Körperausdruck genial. Auch Katja Bürkles Darstellung zeichnet ein intensives nonverbales Spiel aus. Ihre starke und unbeirrte Julie ist nie nur das Opfer, auch wenn sie Lilioms Schläge hinnimmt.

Henkels „Liliom“ hat nicht ganz die Strahlkraft ihrer „Platonow“-Inszenierung. Aber die Regisseurin kommt da ziemlich weit heran. Dass es bei den Regie-Ideen einige Reminiszenzen an ihre Tschechow-Arbeit gibt, mag man kritisieren. Aber es sind keine stilverliebten Wiederholungen, sondern sinnig verwendete Mittel. Schließlich haben die beiden Stücke auch gewisse inhaltliche Parallelen.

Existenzielle Ausweglosigkeit, aufgeben, bewusst in die Katastrophe steuern, weil der Glaube an einen Sinn oder einen Weg aus der Misere von vornherein verloren ist – das Aufspüren solcher Stückelemente hebt den „Liliom“ in Karin Henkels Inszenierung über ein bloßes Unterschicht-Sozialdrama hinaus. Man solle doch einfach Schluss damit machen, sagt Lilioms Tochter Luise (ebenfalls gespielt von Katja Bürkle), als im letzten Bild ein sentimentaler Popsong ertönt. Und wieder ist nicht nur die Musik gemeint. Das Licht jedenfalls verlischt abrupt.