Die Präsenz der Dinge

Eine britische Mittelstandsfamilie fährt in den Urlaub, trifft einen unangepassten Engel und erhält zum Schluss ein besenrein leer gefegtes Leben – „Die Zufällige“ von Ali Smith

VON ANNE KRAUME

Man kann die Welt durch die Linse einer Digicam betrachten. Man kann sie auch in mathematische Formeln aufspalten. Man kann Rede und Antwort stehen, wenn man über sie interviewt wird. Oder man kann sie sich selbst in Sonettform erzählen. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, die Komplexität der Dinge und die des eigenen Lebens herunterzubrechen auf ein Maß, mit dem man sich arrangieren kann. Wirklich leichter wird es dadurch nicht. Auch nicht in dem Roman „Die Zufällige“ von Ali Smith.

Die Familie Smart ist im Urlaub in einem kleinen Dorf in Norfolk. Astrid ist zwölf und versucht jeden Morgen, den exakten Beginn des Tages mit ihrer Kamera festzuhalten. Magnus ist 17 und hält sich selbst für eine „dreidimensionale Reproduktion von etwas, das eigentlich nicht da ist“, seit sich eine Mitschülerin das Leben genommen hat. Ihre Mutter Eve ist Schriftstellerin und erzählt in ihren Büchern die Lebensgeschichten von Menschen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, die ihr in fiktiven Interviews über ihr Leben berichten. Der Stiefvater Michael ist Literaturprofessor und interessiert sich ebenso für seine jungen Studentinnen wie für Themen wie „Die amerikanische präsidiale Erektion: Metaphern der Macht in den Romanen von Philip Roth“.

Die Versuche der vier, die Komplexität ihrer Wirklichkeit zu reduzieren, sind so ausgefeilt wie sinnlos. Alle vier leben nebeneinanderher in einer Welt, die eigentlich nur noch Fassade ist – und alle vier sind so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass die Fassade nur deshalb nicht zum Einsturz kommt, weil keiner sich die Mühe macht, sie einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Solange zumindest, bis Amber kommt.

Amber ist die Zufällige aus dem Titel des Romans. Amber steht eines Tages da wie aus dem Nichts in ihren abgeschnittenen Shorts, und der Schmutz an ihren nackten Füßen erzählt von einem weiten Weg. Ein bisschen ungepflegt sieht sie aus und trotzdem verführerisch, und jeder der vier Smarts denkt, einer der anderen drei habe die Unbekannte eingeladen. Amber heißt eigentlich Alhambra nach dem Kino, in dem sie gezeugt wurde – viel mehr ist nicht über sie zu erfahren: „Ich kam zur Welt. Und so weiter. Meine Mutter und mein Vater. Und so weiter. Halten Sie sich nicht damit auf.“ Amber, die Zufällige, muss die Fassade dieser gar nicht so unsympathischen Familie nur einmal kurz antippen, damit die ganze Konstruktion ins Wanken gerät und schließlich zu Bruch geht.

Ali Smith, 1962 im schottischen Inverness geboren, erzählt in dem Roman die Geschichte einer ebenso lustvollen wie bedrohlichen Befreiung: Amber küsst Eve auf den Mund und lässt sie die ganze Nichtigkeit ihrer Existenz spüren. Amber konfrontiert Michael mit der Wirklichkeit eines tatsächlichen Gefühls und führt dann ihn und seine Sexbesessenheit vor, indem sie sich eben nicht von ihm verführen lässt. Amber verführt stattdessen Magnus und löst damit den Bann des Selbstmords und der Zahlen, unter dem der Junge steht. Amber kanalisiert Astrids Filmwahn, indem sie mit ihr zuerst das Filmen von Überwachungskameras spielt und schließlich Astrids Kamera zerstört. Als die Familie am Schluss nach London zurückkommt, findet sie eine leere Wohnung vor. Während des in Norfolk verbrachten Sommers hat jemand die Zimmer komplett ausgeräumt, einschließlich aller Türgriffe. So leer gefegt wie diese besenreine Wohnung ist das Leben der Smarts nach der Begegnung mit Amber.

Ali Smith’ Amber ist eine schillernde Gestalt, ein unangepasster Engel, eine sehr zeitgenössische Figur, die nicht umsonst aus dem Kino stammt, die von der medialen Präsenz der Dinge geprägt ist und die diese Dinge deshalb oft so präzise wahrnimmt, dass sich Kommentare erübrigen. Immer wieder spielt die politische Gegenwart in den Roman hinein, ohne dass sie aber aufdringlich thematisiert würde. Es ist der erste Sommer des Irakkriegs, im Fernsehen sieht man Saddams tote Söhne, aber die Präsenz der Bilder – dieser Bilder und aller anderen – beeinflusst den Fortgang der Dinge nicht. Sie strukturiert allenfalls noch die Art und Weise, wie die Figuren ihre eigene Wirklichkeit wahrnehmen: „Ich schlug die Augen auf. Es war alles in Farbe“, so knapp kann Amber sich selbst als Geschöpf des medialen Zeitalters entwerfen.

Wenn die Personen des Romans deshalb immer wieder abwechselnd zu Wort kommen, um ihre persönliche Wahrnehmung der Wirklichkeit zu beschreiben, dann macht diese unkomplizierte Vielstimmigkeit eine der großen Stärken von Ali Smith’ Buch aus. Die Erzählstimme wandert von einem zum anderen. Nicht nur die Wahrnehmung, sondern auch die Sprache der Figuren wird durch deren jeweils spezifische Assoziationen und Obsessionen gefiltert – und gerade wenn diese Sprache nur allzu oft zu reinen Floskeln gerinnt, entlarven sich nicht zuletzt die unterschiedlichen Versuche der Komplexitätsreduktion in ihrer ganzen Sinnlosigkeit: „Gedichte. Bücher. Kunst und Leben. Scheiß auf alles“, kann der literarisch versierte Michael deshalb nur abschließend feststellen – und so den Raum für Neues öffnen.

Ali Smith: „Die Zufällige“. Aus dem Englischen von Silvia Morawetz. Luchterhand Verlag, München 2006, 320 Seiten, 19,95 Euro