„Müntefering gibt falsche Zahlen heraus“

Keiner weiß, wie viele Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger es gibt, sagt der Arbeitsmarktexperte Paul Schröder. Denn die Hartz-Gesetze haben zu einem statistischen Chaos geführt, in dem niemand mehr den Durchblick behält

taz: Herr Schröder, offiziell sind vier Millionen Arbeitslose registriert. Geht es jetzt aufwärts auf dem Arbeitsmarkt?

Paul Schröder: Die offiziellen Statistiken sind eher verwirrend. Vergangenes Jahr ist die Zahl der Arbeitslosen um knapp 600.000 gesunken, aber bis Ende Oktober sind nur 392.000 neue sozialversicherungspflichtige Stellen entstanden. Diese Lücke passt mit dem Aufschwung nicht so recht zusammen.

Die Statistik ist ungenau? Weiß man in Deutschland denn nicht sogar, wie viele Kühlschränke verkauft werden?

Bei der Arbeitslosenzahl sind die Gestaltungsspielräume aber extrem groß. Ein Beispiel: Wenn man die Bezieher von Arbeitslosengeld I und II zusammenrechnet, dann hat sich ihre Zahl letztes Jahr nur um 257.000 vermindert. Aber die registrierten Arbeitslosen sind – wie gesagt – um knapp 600.000 gesunken. Hier tut sich eine Lücke von rund 340.000 Menschen auf, die irgendwie aus der Arbeitslosenstatistik verschwunden sind.

Und wohin sind diese Menschen verschwunden?

Das weiß keiner genau. Denn bei Hartz-IV-Empfängern wird nicht erfasst, warum sie nicht – oder nicht mehr – als Arbeitslose registriert werden. Darüber gibt es bisher keine Statistik – oder sie wird nicht veröffentlicht.

Das klingt nach einer Verschwörungstheorie: Die Regierung will uns ihre dunklen Geheimnisse verheimlichen.

Es scheint eher so zu sein, dass die Regierung ihre eigene Reform nicht mehr versteht. Selbst Arbeitsminister Müntefering gibt Presseerklärungen heraus, die objektiv falsch sind.

Inwiefern?

Das ist so kompliziert wie die ganze Reform. Aber ein Beispiel: Ende November haben die Arbeitsagenturen 30.000 Arbeitslose weniger gezählt, die sie betreuen. Daraus hat dann Müntefering gemacht, dass es 30.000 Arbeitslosengeld-I-Empfänger weniger geben würde. Ein Irrtum, weil nicht jeder Arbeitslose auch Arbeitslosengeld I erhält.

Gibt es noch andere solcher amtlichen Irrtümer?

Eher lustig war, dass einige Landkreise immer wieder ausgewiesen haben, dass die allein erziehenden Hartz-IV-Empfänger zu 50 Prozent männlich seien. Das widerspricht natürlich jeder Lebenserfahrung. Ein Computerfehler, wie sich dann herausstellte: Jetzt werden für diese Landkreise gar keine Zahlen mehr zu Alleinerziehenden angegeben. Oder mit einer Fußnote versehen: „Software-Fehler“.

Aber kann man sich wenigstens darauf verlassen, dass die Datenerhebung funktioniert, wenn es wichtig wird?

Nein. Es ist nicht einmal klar, wie viele Hartz-IV-Empfänger es wirklich gibt. Nach drei Monaten kommen revidierte Zahlen heraus – die bisher immer um 4 bis 5 Prozent höher lagen, als in den Arbeitsmarktberichten ausgewiesen wurde. Aber selbst diese revidierten Daten sind zum Teil so unplausibel, dass die Bundesregierung sie 2007 nicht herangezogen hat, um die Eingliederungsmittel für Hartz-IV-Empfänger zu verteilen.

Zusammengefasst: Viele interessante Daten werden gar nicht erhoben – und die erhobenen Daten sind ungenau.

Besonders erstaunlich ist zum Beispiel, dass zwar die Zahl der Hartz-IV-Empfänger immer wieder nach oben korrigiert wird – was aber gar keinen Einfluss auf die offiziellen Arbeitslosenzahlen hat. Die werden nie revidiert.

Vielleicht endet das Chaos, wenn alle Computerprogramme der Bundesagentur laufen?

Das ist unwahrscheinlich. Denn das Chaos wird von den Hartz-Gesetzen selbst gestiftet, die zwei Klassen von Arbeitslosen geschaffen haben und gleich drei Verwaltungsinstitutionen: Arbeitsagenturen, Arbeitsgemeinschaften und optierende Kommunen. Und zwischen diesen werden die Arbeitslosen hin- und hergeschoben.

Geben Sie doch mal einen Tipp an die Laien: Wenn man sich nur mal ganz schnell über den Arbeitsmarkt informieren will – welcher Zahl ist dann am ehesten zu trauen?

Hmm …

Gibt es wirklich gar keine?

Eigentlich nicht. Man könnte zum Beispiel denken, dass wenigstens der Zuwachs an sozialversicherungspflichtigen Stellen eine relativ verlässliche Zahl sei. Aber es irritiert, dass immer mehr Beschäftigte mit regulären Jobs nebenher noch Hartz-IV beziehen müssen. Offenbar nehmen vor allem Teilzeitstellen und Niedriglohnjobs zu.

Ein letzter Test: Die Bundesagentur meldet stolz, dass nur 43 Prozent aller Erwerbslosen Langzeitarbeitslose seien.

Das stellt sogar das wissenschaftliche Institut der Bundesagentur in Frage. Ein Langzeitarbeitsloser muss nur einen 1-Euro-Job machen oder eine Trainingsmaßnahme absolvieren, dann gilt er wieder als „kurzzeitig arbeitslos“.

Was raten Sie also?

Auch auf das Kleingedruckte und alle Fußnoten achten – besonders auf die nicht geschriebenen.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN