RALPH BOLLMANN MACHT
: Politisches Theater

Angela Merkel ist verrückt nach Hauptmanns „Webern“. Derweil verachtet die Kulturszene das Prekariat

Mein Freund stupste mich an, sonst hätte ich es gar nicht gleich gesehen, trotz des Getuschels im Saal und der vielen Blicke. Tatsächlich, da hatte sich gerade die Kanzlerin in die erste Reihe des Mittelrangs geschoben, ihr Ehemann auf der einen Seite, ihr Fraktionschef und die für Kultur zuständige Stellvertreterin auf der anderen. Es musste ungefähr die Stelle sein, an der einst der deutsche Kaiser seine Loge hatte. Die er kündigte, als das Deutsche Theater im September 1894 Gerhart Hauptmanns „Weber“ herausbrachte, ein Sozialstück über das Elend von Globalisierungsverlierern in den schlesischen Bergen und ihren vergeblichen Widerstand.

Gerade erst hatte die Neuinszenierung Premiere, dasselbe Stück, am selben Haus. Dass es ein Politikum sein würde, war mir klar. SPD-Chef Sigmar Gabriel besuchte die erste Vorstellung, Angela Merkel wie ich die dritte. Im Foyer traf ich einen früheren Berliner SPD-Senator, der spitz fragte, warum sich denn ein taz-Redakteur für ein Stück der Arbeiterbewegung interessiere.

Gerhart Hauptmann selbst behauptete, er habe gar kein sozialdemokratisches Stück geschrieben. Man hat das für einen Vorwand gegen die Zensur gehalten, später dann für die Selbstilisierung eines konservativ gewendeten Alten. Aber vielleicht stimmt es ja, dachte ich an diesem Abend. Regisseur Michael Thalheimer hat wieder einmal einen seiner verknappten Theaterabende daraus gemacht, skelettiert, kommentarlos, mitleidslos. Man kann sich vieles hineinfantasieren in diese Aufführung. Oder eben auch nicht.

Interessanter als das Verhalten der Politiker fand ich die Reaktion des Feuilletons. Mehrere Kritiker merkten an, sie fänden in der Aufführung die Fabrikbesitzer sympathischer als die aufständischen Weber. Diese zerlumpten, stinkenden Leute, die saufen, herumbrüllen, einen unverständlichen Dialekt sprechen – und allen Ernstes glauben, sie könnten durch den Sturm auf eine schlesische Fabrikantenvilla den Siegeszug der dampfbetriebenen Webstühle aus England aufhalten: Mit diesen Leuten, so hieß es, könne sich ein Zuschauer heute doch keineswegs identifizieren.

Wirtschaftshistorisch betrachtet, ist diese Analyse richtig. Langfristig lag die Lösung des Problems darin, dass die Weber in die Städte abwanderten, zu Industriearbeitern wurden und über viele Generationen mühsam den sozialen Aufstieg schafften. Aber was fängt ein Politiker mit dieser Erkenntnis an? Soll er die Leute, die ja seine Wähler sind, auf kommende Jahrzehnte vertrösten? Schon der historische Weberaufstand der 1840er Jahre führte jedenfalls zu einer Welle der Entrüstung, der Revolutionsfurcht und den Anfängen von Sozialpolitik in Deutschland.

Bei der Premiere des Stücks 1894 stand die Kulturwelt auf der Seite der Weber, die politischen Exponenten des Kaiserreichs identifizierten sich mit den Fabrikanten. Heute ist es umgekehrt. Das Kulturvolk von Berlin-Mitte findet den aalglatten Unternehmer in der Aufführung irgendwie cool, die uncoole Politik hat sich ums abgehängte Prekariat zu sorgen. Während sich Merkel über Thalheimers zugespitzte Aufführung amüsiert, lässt sie ihre Arbeitsministerin über den Mindestlohn für die Leiharbeiter verhandeln. Gegen den Protest von Arbeitgebern. Vielleicht solle man deren Funktionäre, scherzt ein Christdemokrat im Foyer, ja auch mal in die „Weber“ schleifen.

Der Autor leitet das Parlamentsbüro der taz Foto: Urbach