„Hugo Chavéz geht einen anderen Weg“

„Revolution ist kein heroischer Akt, sondern ein Prozess“, erklärt der bolivianische Vizepräsident Alvaro García Linera. Seine Regierung setzt auf einen starken Staat und erweiterte Mitspracherechte – und sieht ihr Land als Avantgarde

taz: Herr Linera, in der Opposition drängen linke und soziale Bewegungen auf Veränderungen. Aber wenn sie in die Regierung gewählt werden, fangen sie oft an, von „Geduld“ zu reden. Gilt das auch für Sie?

Alvaro García Linera: Wir fordern Geduld bei wirtschaftlichen Ergebnissen, die sich langsamer einstellen, als wir das gerne hätten – und drängen auf die Umsetzung von Veränderungen, die die Gesellschaft verlangt.

Zum Beispiel?

Wir drängen auf die rasche Einsetzung der verfassunggebenden Versammlung. Die Errichtung eines neuen Staatsunternehmens für Gas und Öl mit breit angelegter Partizipation. Rasche Verbesserungen der sozialen Sicherheit, der Gesundheitsfürsorge, des Bildungssystems. Und auf die schnelle Zerschlagung jener perversen, korrupten und bürokratischen Funktionsmechanismen staatlicher Verwaltung. Es sind eine Menge Dringlichkeiten – mehr noch als zu Oppositionszeiten.

Viele frühere Linksregierungen in Lateinamerika haben sich schwer damit getan, die richtigen Instrumente zu finden, um jene Veränderungen durchzusetzen, für die sie gewählt wurden. Wissen Sie die Instrumente zu bedienen?

Wenn man strukturelle Veränderungen durchsetzen will, wird es wohl immer einen Mangel an Instrumenten geben, um das schnell umzusetzen. Das ist kein Zufall, denn man arbeitet mit einer staatlichen und bürokratischen Struktur, die für andere Zwecke geschaffen wurde. Die Langsamkeit, Unfähigkeit und zähe Entscheidungsfindung der Bürokratie machen es schwer, effiziente Veränderungen umzusetzen. Aber man lernt ja jeden Tag dazu, welche Knöpfe man drücken muss, um die gewollten Ergebnisse zu erzielen.

Haben Sie ein Beispiel parat?

Am Anfang waren wir unglaublich vorsichtig, weil wir die wirtschaftliche Stabilität unseres Landes nicht gefährden wollten. Aber später merkt man, dass man Schritte zu mehr sozialer Sicherheit und Verteilungsgerechtigkeit unternehmen kann, ohne notwendigerweise die ökonomische Stabilität zu gefährden.

Wie fühlen Sie sich denn von der Privatwirtschaft behandelt?

Wenn sie sich an die Regeln hält, im rechtlichen Rahmen arbeitet, ihre Steuern zahlt, dann trifft sie auf absoluten Respekt. Auf der anderen Seite werden sich jene von unserer Politik angegriffen fühlen, die mehr spekulieren als produzieren – die die Politik ausnutzen wollen, um sich wirtschaftliche Ressourcen des Staates zu ergaunern. Dagegen gehen wir an: Stichwort Landbesitz, Stichwort Steuern.

Die Ankündigung des Präsidenten, die Erdgasproduktion zu nationalisieren, hat starke internationale Reaktionen ausgelöst. Demgegenüber scheinen die neuen Verträge mit den internationalen Energiekonzernen von einem Zurückweichen der Regierung zu zeugen, oder?

International dominiert eine Privatisierungsideologie. Wir haben einen Modernisierungsweg im Rahmen der Globalisierung ausgesucht, der einen starken Staat braucht. Was soll Bolivien über den freien Markt sprechen, wo es doch gar keinen Binnenmarkt gibt? Wir müssen Handelsöffnungen mit Prozessen des internen Marktaufbaus kombinieren. Wo wir wettbewerbsfähig sind und es uns gut geht, können wir ganz liberal sein. Aber wo wir schwach sind, brauchen wir Protektionismus. In Lateinamerika sind wir zu lange einer nahezu religiösen Rezeptur gefolgt, die nicht funktioniert hat. Sie zu wiederholen, wäre ein Irrtum.

Und was heißt das nun für die Nationalisierungspolitik?

Unser Weg verläuft im Stil des 21. Jahrhunderts. Also: Nicht die Unternehmen vertreiben, sondern sie zur Einhaltung neuer Regeln verpflichten, die sicherstellen, dass der Staat mehr Kontrolle über diesen Bereich hat – dass der Staat einen größeren Teil des Ertrages erhält und dass der Investor eine Reihe von Diensten für den Staat erbringt.

Diese Regierung entstammt – wie Sie selbst – aus den sozialen Bewegungen. Wie ist das Verhältnis zwischen Bewegungen und Regierung heute?

Bolivien ist eine Art Avantgarde und Labor. Heute sind die sozialen Bewegungen die Regierung. Das birgt einige interessante Aspekte für die weltweite linke Debatte: Zuerst, dass die sozialen Bewegungen nicht nur Widerstandsbewegungen sind, wie es die Slogans sagen. In Bolivien haben die sozialen Bewegungen die Macht übernommen – und sie benutzen sie, um ihre eigene Mobilisierungsfähigkeit zu potenzieren. Das geht über „Widerstand“ hinaus zur Offensive. Und es verändert die Debatte, wie sie Leute wie Toni Negri oder Halloway angestoßen haben, die gesagt haben, dass man nicht die Macht anstreben soll.

Aber was bedeutet es konkret für soziale Bewegungen, an der Regierung zu sein?

Das erscheint zunächst als Widerspruch. Der Staat hält per Definition das Entscheidungsmonopol – eine soziale Bewegung bemüht sich per Definition um die Sozialisierung der Entscheidungen. Das ist ein Widerspruch und eine Spannung, die man genau so leben muss. Man muss die Idee vom Staat als Maschine aufgeben und ihn stattdessen als Beziehung sehen, wie Marx auch sagte. Die sozialen Bewegungen im Verhältnis zum Staat werden entweder von der Maschine transformiert – das ist die größte Gefahr. Oder sie verändern als Anschubgeber einer neuen Beziehung die Entscheidungsträger und erweitern die Mitspracherechte. So ist es in Europa geschehen und gilt bis heute.

Wie wichtig ist für Bolivien die politische Entwicklung im übrigen Lateinamerika? Welche Rolle spielen die Linksregierungen in anderen Ländern?

Die Zerstörung der Rechte und der sozialen Errungenschaften in den letzten 20 Jahren konservativer Herrschaft sind überall auf der Welt zu spüren, auch in den reichen Ländern. Wir denken, dass auch in anderen Weltgegenden das Pendel nach links ausschlagen wird. Es liegt an der Linken, sich vorzubereiten und diese Möglichkeiten weise auszunutzen. Die Aufgabe ist es, gut zu regieren. Die Linke muss verstehen, dass die Revolution kein heroischer Akt ist, sondern ein Prozess, der auch seinen Anteil an Verwaltungsangelegenheiten hat. Eine gute Regierung ist langfristig eine sehr gute Revolution.

Welche Rolle spielt die Figur von Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez für diesen Prozess in Lateinamerika? Ist er der neue Führer der Linken in Lateinamerika?

In Lateinamerika werden derzeit diverse progressive Wege der Modernisierung der Gesellschaften eingeschlagen. Keiner dieser Wege resultiert aus dem Einfluss eines anderen oder kopiert diesen. In Venezuela wird die Gesellschaft vom Staat aus umgebildet, in Bolivien bildet die Zivilgesellschaft den Staat um. In Bolivien haben die indigenen sozialen Bewegungen einen riesigen Einfluss, die eine historisch und kulturell völlig andere Lesart haben als die charismatische Führung in Venezuela.

Wie groß sind denn dann die Chancen zur Zusammenarbeit?

Ganz bestimmt gibt es unter den linken Präsidenten und Regierungen mehr Möglichkeiten zum gemeinsamen Handeln. Aber zu glauben, dass es einen Präsidenten gebe, der alles kontrollieren könnte – dass es etwa ein führendes Land gäbe, dem der Rest sich zuzuordnen hätte –, das ist verrückt. Gerade Bolivien ist sehr auf Autonomie und Souveränität bedacht.

INTERVIEW: BERND PICKERT