„Ein Film ist wie ein Tier, er lebt“

Kino global: „Babel“ von Alejandro González Iñárritu spielt in Marokko, in Mexiko, den USA und in Japan. Ein Gespräch mit dem mexikanischen Regisseur über parallele Handlungsstränge, Zufälle und Beziehungskrisen zwischen Regierungen

Interview ANDREAS BUSCHE

taz: Herr González Iñárritu, „Babel“ ist nach „Amores Perros“ und „21 Gramm“ Ihre dritte Zusammenarbeit mit dem Drehbuchautor Guillermo Arriaga. Hatten Sie schon während Ihrer Arbeit an „Amores Perros“ vor, eine Trilogie über Unfälle und Zufälle zu drehen?

Alejandro González Iñárritu: Ich habe das Konzept für „Babel“ erst während meiner Arbeit an „21 Gramm“ entwickelt. Damals kam mir der Gedanke, dass es Sinn hätte, diese Ideen zu einer Trilogie zusammenzuführen. Drei Filme: Einer ist geografisch in meiner Heimat verortet, einer im Ausland angesiedelt und der dritte aus einer globalen Perspektive heraus erzählt. Es war jedoch nichts, was ich ursprünglich geplant hatte.

Sie benutzen in diesen drei Filmen jeweils eine sehr ähnliche Erzählstruktur …

Überhaupt nicht, die drei Teile unterscheiden sich in ihrer Erzählstruktur gravierend voneinander. „Amores Perros“ besteht aus drei Geschichten, die sich nur ganz kurz überschneiden. „21 Gramm“ ist eine Geschichte, die aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt wird, und „Babel“ erzählt vier Geschichten, ohne dass zwischen den Figuren der einzelnen Episoden eine körperliche Verbindung besteht.

Aber überall spielen Zufälle eine entscheidende Rolle. Was interessiert Sie an Zufällen?

Sie schaffen einen Rahmen, um zu untersuchen, wie wir existieren und wie unser Leben von unseren Mitmenschen bestimmt ist. Meine Filme ermöglichen mir eine Art auktorialer Perspektive. Ich kann sehen, wie sich die einzelnen Linien zueinander verhalten und wo sie sich treffen.

Wie kann man sich Ihre Zusammenarbeit mit Guillermo Arriaga denn konkret vorstellen? Liegt das Drehbuch in chronologischer Reihenfolge vor, oder entwickeln Sie die Struktur der Filme gemeinsam?

Das unterscheidet sich von Fall zu Fall. Bei „Babel“ habe ich Guillermo gebeten, mich bei meinem Projekt zu unterstützen. Am Anfang bestand „Babel“ lediglich aus einer Situation, die auf der ganzen Welt, in anderen Ländern und fremden Sprachen, Konsequenzen nach sich zieht und Ereignisse auslöst. Ich hatte jede Menge Themen, über die ich sprechen wollte. Von dieser Prämisse aus begann Guillermo dann, einzelne Geschichten auszuarbeiten; wir entwickelten verschiedene Charaktere, Möglichkeiten, Geografien und kriegten so den Prozess langsam in Gang. In dem Stadium war es ein ständiges Hin und Her zwischen uns. Im zweiten Stadium, dem Dreh vor Ort, hatte ich andere Mitarbeiter, die Produktionsdesigner und Darsteller zum Beispiel. Und im letzten Schritt half mir selbstverständlich mein Cutter Stephen Mirrione.

Auf den ersten Blick wirkt die Struktur Ihrer Storys willkürlich. Erst sukzessive realisiert man als Zuschauer, dass sie sorgfältig konstruiert sind. Gibt es eine Art System, psychologischer oder sonstiger Natur, nach dem Sie die Fragmente Ihrer Geschichte anordnen? Sie wollen ja einen bestimmten Effekt erzielen.

Nein, so funktioniert das nicht. Man legt los mit einer Idee des Skripts, und damit konfrontiert man die konkrete Welt, das heißt: Man beginnt zu drehen. Man merkt sehr schnell, was geht und was nicht. Aber wirklich festgelegt wird die Struktur des Films erst im Schneideraum. Man braucht zunächst einen Ausgangspunkt, und dann muss man versuchen, diesen Spirit in die Arbeit zu transportieren und zum Leben zu erwecken. Ein Film ist wie ein Tier; er lebt und muss gebändigt werden.

Sehen Sie bestimmte Aspekte Ihrer Arbeit in der Tradition von Avantgarde-Filmemachern wie Chris Marker, der in „La Jetée“ ja auch Zeit dekonstruiert? Wenn Sie durch Zerstückelung und Parallelisierung unterschwellig Themen herausarbeiten, dann finden sich Anknüpfungspunkte ja eher im nichtnarrativen Kino.

Godard hat das auch schon getan, und Kurosawa. Oder Griffith. Die Idee ist so alt – ich mache hier wirklich nicht Neues. Dieser Stil ist einfach nur irgendwann zu Grabe getragen worden, weil das Publikum durch geradlinige Geschichten und sehr präzise Handlungselemente zu lange verhätschelt und darüber schlicht faul geworden war. In der Literatur und der Malerei ist Dekonstruktion immer schon Teil des Spiels gewesen. Ich habe auch absolut nichts gegen Chronologie, denke aber, wenn das erzählerische Mittel der Dekonstruktion hilft, einen bestimmten dramatischen Effekt zu erzielen oder die Substanz einer Geschichte zu untermauern, sollte es ohne Angst benutzt werden. Das Kinopublikum verfügt heute über die intellektuellen Werkzeuge, es zu verstehen.

Was mich mich an „Babel“ mehr noch als an „21 Gramm“ gestört hat, war, wie fein säuberlich sich das vermeintliche Durcheinander am Ende wieder zu einem narrativen Ganzen fügt. Das mag für den Zuschauer vielleicht befriedigend sein; dafür, dass Ihre Filme aber auch den Anspruch haben, eine Art Panorama des Lebens zu vermitteln, fehlt mir letztlich das strukturbildende Element Chaos. Alle Fragmente streben wieder nur einer klaren Ordnung, noch dazu einer chronologischen, entgegen. Oder darf man so eine Offenheit innerhalb des Hollywood-Systems einfach nicht erwarten?

Ich denke nicht in Kategorien wie Hollywood. „Babel“ ist meiner Meinung nach fordernd genug, weil er vier Geschichten parallel erzählt, in verschiedenen Teilen der Welt, mit Figuren, die sich niemals begegnen werden. Es bestand kein Anlass, den Film noch chaotischer zu gestalten. Ich denke, dass „Babel“ der chronologischste Film ist, den ich bisher gemacht habe. Er ist im Grunde sehr simpel. Es geht auch gar nicht darum, einen Film unnötig chaotisch zu strukturieren, nur um mir oder dem Publikum zu beweisen, wie clever ich bin. Wenn es der Dramaturgie angemessen ist – alles klar. Aber ich will den Zuschauer nicht verprellen oder gar verschrecken.

Was ich meine, ist, dass „Babel“ wie im Prinzip die ganze Trilogie einer Art göttlicher Vorsehung zu folgen scheint und damit extrem deterministisch rüberkommt. Die Figuren können nicht miteinander kommunizieren und obendrein haben sie sich nicht unter Kontrolle. Widerspricht das nicht Ihrer Intention?

Das würde ich nicht sagen. Die Umstände sind außer Kontrolle geraten, nicht die Menschen, denn sie sind ja noch fähig, Entscheidungen zu treffen. Die Handlung in „Babel“ wird durch die Entscheidung einer Figur in Gang gesetzt – im Gegensatz zu „Amores Perros“, wo ein Unfall die Ereignisse auslöst.

Aber die Kinder, die auf den Touristenbus feuern, sind im Prinzip unschuldig.

Das sind sie, aber alles beginnt vorher: mit dem japanischen Geschäftsmann, der dem Jäger sein Gewehr schenkt. Und die Kinder stehlen die Waffe, ganz bewusst. Es geht wirklich nicht um Schicksal oder göttliche Fügung. Im Gegensatz zu „21 Gramm“, wo Benicio del Toros Figur auf naive Weise an eine göttliche Fügung glaubt.

Ihr bisheriges Werk ist thematisch und ästhetisch sehr geschlossen. Werden Sie mit dem Abschluss der Trilogie nun nach neuen, vielleicht klassischeren erzählerischen Wegen suchen?

Ich bin mit dem, was ich bisher erreicht habe, sehr zufrieden – aber wer weiß. Wenn ich bei meinem nächsten Film merke, dass er wieder eine weniger chronologische Struktur erfordert, würde ich es auch ein viertes Mal machen. Das ist allerdings keine Arbeitsweise, mit der ich am Ende meiner Karriere ausschließlich in Verbindung gebracht werden möchte.

Darauf wollte ich hinaus. Mir kam es vor, als würde Ihre Methode mit dem dritten Film langsam Abnutzungserscheinungen zeigen. Der Zuschauer weiß inzwischen sehr genau, was er von einem Film von Alejandro González Iñárritu zu erwarten hat. Benötigen Ihre Filme aber nicht gerade einen unvorbereiteten, ahnungslosen Zuschauer, um in Ihrem Sinne zu funktionieren?

Das ist heute sowieso nicht mehr möglich, weil die Medien inzwischen so weitflächig und lückenlos arbeiten, dass das Publikum alles über den Film weiß, bevor es ihn überhaupt gesehen hat.

Welche Bedeutung hat es für Ihre Geschichte, dass sie in drei unterschiedlichen Kulturkreisen angesiedelt ist?

Die Moral von der Geschichte ist: Egal, wie weit entfernt wir voneinander leben, im Grunde sind wir uns doch alle sehr ähnlich. Ob du nun arm oder reich, Muslem oder Jude bist – was ich in „Babel“ entdeckt habe, ist, dass wir alle diesen Schmerz, diese Verletzlichkeit gemein haben. Es geht darum, Brücken zu bauen. Zu sehen, was uns verbindet; nicht, was uns voneinander unterscheidet.

Eine problematische Sichtweise, denn natürlich trennen den marokkanischen Viehbauern und den japanischen Geschäftsmann nicht nur geografisch Welten.

Ja, ich zeige in „Babel“ eine Vielfalt. Zwischen all diesen Figuren herrschen Verständigungsschwierigkeiten. Natürlich kann man diese Menschen nicht kulturell vergleichen, aber das versuche ich auch gar nicht; ich bin kein Ethnograf. Mir geht es vielmehr darum, thematische Ähnlichkeiten in den Leben der einzelnen Figuren festzustellen, abseits von bloßen Äußerlichkeiten, die ihre jeweilige Kultur bestimmen. Sie interessieren mich als Menschen: ihr Wesen oder ihr Verhältnis zu den Eltern beziehungsweise Kindern.

Zugleich streifen Sie in „Babel“ einige große, aktuelle Themen wie Terrorismus und Migration. Aber diese Themen werden nicht entwickelt. Politik scheint Sie nur zu einem gewissen Grad zu interessieren, oder?

Mich interessiert viel mehr die Politik des menschlichen Verhaltens. Ich habe mit „Babel“ versucht, über persönliche Geschichten und den Mikrokosmos der intimen Erfahrung den Makrokosmos Politik, der im Übrigen – natürlich auf einem ganz anderen Level – sehr ähnlich funktioniert, etwas genauer zu beleuchten. Was im Film zwischen zwei Regierungen wie der amerikanischen und der marokkanischen passiert, ähnelt der Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau, im Film dargestellt von Brad Pitt und Cate Blanchett. Es ist natürlich überhaupt nicht meine Absicht, den Makrokosmos zu beschreiben. Dazu müsste ich wohl ein politisches Essay schreiben. Meine politische Haltung aber ist in „Babel“ unmissverständlich. Nur stelle ich mich bestimmt nicht hin und fange an zu predigen.