IM RÄUDIGEN KREUZBERG
: Eine Traumadresse

Kürzlich hat ein Italiener hier todesmutig einen Streetfood-Laden eröffnet

Eigentlich fühlen wir uns auf unserem, dem unteren Teil der Straße wie die räudigsten Hunde Kreuzbergs. Die Fenster gehen nach Norden raus. Das Trottoir ist ein Meer aus Scherben. Um die Pflanzkübel, in denen nur Unkraut und Kakteen wuchern, liegt Sperrmüll. Die Kioske stinken nach Bier. Kürzlich hat ein Italiener todesmutig einen Streetfood-Laden eröffnet und hört trotzig Techno. Im Hinterhaus lassen Altpunks bei offenen Fenstern Marius Müller-Westernhagen laufen, und zwar „Sexy“, in Endlosschleife.

Okay, man guckt auf den Görlitzer Park. Der ist von oben schön grün. Wie er von unten ist, damit fange ich jetzt nicht wieder an. Zu viel schon ist gesagt zu den Dealern und ihren ins Gebüsch geworfenen Kaffeebechern und zu den wegen der Dealer noch lustigeren lustigen Berlin-Besuchern und ihrem Feierrestmüll. Gleichviel: Die untere Wiener Straße ist nicht schön und gleichermaßen energetisch wie anstrengend.

Weswegen wir am Wochenende zunehmend „auch mal rausfahren“. Und nach Jahren der Fahrradfascho-Renitenz Ja gesagt haben zu einem geschenkten automobilen Untersatz. Weswegen ich mit einem Service-Mitarbeiter des Kfz-Direktversicherers Admiral in Köln telefoniere. „Zur Überführung bieten wir Ihnen eine Kurzzeitversicherung mit von Amts wegen erforderlicher eVB-Nummer an“, sagt er. „Sekunde, ich pflege Ihre persönlichen Daten in die Maske ein, einen klitzekleinen Moment, Postleitzahl, Adresse …“ Er stockt. Und spricht mit anderer Stimme weiter. „Wat? Wiener Straße? Dat is ja minge Traumadresse! Emmer, wenn isch in Berlin bin, jang isch da uus. Wild at Heart, nää, dat is so schön!“

Mein Tag ist plötzlich auch wunderschön. Mantrahaft wiederholt mein Hirn: Ein Rockabilly-Callcenter-Agent in Köln träumt von deiner Adresse! Du bist die Sonne, du bist das Licht!

KIRSTEN RIESSELMANN