Ein Mann auf der Lauer

VON HEIKE HAARHOFF

Jetzt muss es flott gehen. Thema im Kulturausschuss ist heute das Stasiunterlagengesetz, die Zeit drängt. Bundestagsabgeordnete fragen, Sachverständige antworten. „Bitte kurz und präzise“, befiehlt Hans-Joachim Otto von der FDP. Er leitet an diesem Herbstnachmittag die Expertenanhörung mit Juristen, Historikern und Stasi-Landesbeauftragten. Noch vor Jahresende muss der Bundestag das Gesetz novellieren, sonst fällt die bisherige Regelüberprüfung ersatzlos weg. Die Parlamentarier haben eilig einen Entwurf verfasst, sein Inhalt ist umstritten, jetzt suchen sie Rat. Es wird der Sachverständige Dr. Hubertus Knabe aufgerufen.

Knabe, 47, leitet die Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen zentralen Stasi-Untersuchungsgefängnisses in Berlin-Hohenschönhausen. Während der sowjetischen Besatzung und in der DDR waren hier tausende politisch Verfolgte inhaftiert. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass künftig nur noch in herausgehobenen Positionen und bei konkreten Verdachtsmomenten überprüft werden darf, ob jemand für die Stasi gespitzelt hat. Knabe soll sagen, ob die Novelle dem wiedervereinigten Deutschland Rechtsfrieden bringen kann.

Knabe schüttelt traurig den Kopf. Bekümmert spricht er von einem nicht zu verantwortenden „Schlussstrich“ und einem „verheerenden Signal“ für die Opfer der SED-Diktatur, ungeeignet, deren „Bitterkeit“ überwinden zu helfen. Das fange schon bei der strafrechtlichen Aufarbeitung an: Von 100.000 Strafanzeigen wegen Stasi-Mittäterschaft habe es nur ein Prozent bis zur Anklage gebracht, lediglich 15 Personen seien in Haft gekommen. Man könne den Eindruck gewinnen, sagt Knabe, dass diejenigen, die sich schon immer durchgemogelt hätten, noch belohnt würden. Seine Stimme klingt unverändert mild: „Und zu diesem Eindruck haben leider auch Sie, die Bundestagsabgeordneten, beigetragen.“

Dem Moment der Ungläubigkeit über das Gehörte folgt der Tumult. „Ungehörig!“, brüllt ein Abgeordneter, zwei andere schnellen wütend von ihren Plätzen auf. Wolfgang Thierse, Ostdeutscher, Bundestagsvizepräsident, moralische Instanz in Ost-West-Fragen, läuft rosa an: „Herr Knabe, darf ich Sie erinnern, dass wir in einem Staat mit Gewaltenteilung leben? Wir haben uns diesen Vorwurf nicht gefallen zu lassen!“

Die Reaktion fällt genauso kalkuliert scharf aus wie die Provokation. Hubertus Knabe gehört nicht zu den Menschen, die sich versehentlich um Kopf und Kragen reden. Er schießt bewusst übers Ziel hinaus.

Ein Kommunistenfresser

Hubertus Knabe, promovierter Historiker, wissenschaftlicher Direktor der Gedenkstätte Hohenschönhausen. So lautet seine hauptamtliche Bezeichnung. Seine inoffiziellen Titel sind: Stasi-Jäger. Sprecher der Entrechteten. Volkstribun. Insinuist. Opferanwalt. Kommunistenfresser. Es gibt wenige, wohlgemerkt: Sachverständige, die in der Debatte um den Umgang mit dem Erbe der SED-Diktatur so polarisieren wie er.

Es geht ja nicht bloß um das neue Stasiunterlagengesetz. Das will der Bundestag morgen nach langem Ringen um einen Kompromiss endgültig verabschieden (siehe Kasten rechts). Siebzehn Jahre nach dem Fall der Mauer ist in Deutschland der Streit ausgebrochen um Art und Umfang der Aufarbeitung der SED-Diktatur. Es geht um Konzepte für Erinnerungsorte, Zusammenlegung von Gedenkstätten und um die Zukunft der Stasiunterlagenbehörde. Es geht um viel Geld, um das Forscher, Behörden und Gedenkstätten konkurrieren. Vor allem aber geht es um Deutungshoheit.

Der Zeitpunkt der Debatte kommt nicht von ungefähr: Weil die Erinnerungen verblassen, wird jetzt die Schlacht um ihre Historisierung geschlagen. Im Fall der SED-Diktatur ist dies auch deswegen so kompliziert, weil die DDR durch die Wiedervereinigung für die meisten ihrer Erforscher von einem außen- zu einem innenpolitischen Thema geworden ist. „Das Urteil der Gesellschaft ist, anders als bei der NS-Diktatur, noch nicht gefällt“, fürchtet Hubertus Knabe. „War die DDR ein missglückter Versuch, das Glück auf Erden zu bringen, oder war sie ein Terrorregime?“ Für letztere Überzeugung kämpft er, wie ein Getriebener, mit allen Mitteln.

Hubertus Knabe. Wer über ihn schreiben will, muss erst mal in Vorleistung treten. Ein persönliches Gespräch findet nur statt, wenn man ihm vorher zusichert, alle Zitate vor der Veröffentlichung genehmigen zu lassen. Er ist ein Mann auf der Lauer. Warum sollte er etwas von sich preisgeben, wenn er davon ausgehen muss, dass es – aus ideologischen Gründen, wie er mutmaßt – gegen ihn verwendet wird?

Hubertus Knabe residiert hoch oben, noch über den Wachtürmen der ehemaligen Untersuchungshaftanstalt, in einem schlichten Büro mit Balkon. Früher saß hier der Gefängnisdirektor. Der Blick ist unverstellt. Das Gefängnis Hohenschönhausen war zu DDR-Zeiten Sperrgebiet, ein weißer Fleck auf der Landkarte. Oftmals wurde nicht mal den Häftlingen gesagt, wo die Staatssicherheit sie festhielt. Manchmal über Jahre.

„Meine Sorge ist“, sagt Hubertus Knabe, „dass die Deutungen, die sich als falsch erwiesen haben, im Nachhinein erneut gerechtfertigt werden.“ Die Stimme klagend, der Ton moralisierend, das Kinn nach vorn geschoben. Hubertus Knabe eckt auch deswegen so oft an, weil er selbst Einschätzungen, die berechtigt sind, so formuliert, als sei er der einzige mit Durchblick und alle anderen Deppen. Er doziert weiter: „Vor zehn Jahren waren wir erheblich weiter. Damals war für jedermann offensichtlich, dass die DDR eine menschverachtende Diktatur war. Und diejenigen, die das nicht so sahen, haben zumindest geschwiegen. Doch der antitotalitäre Konsens ist brüchig geworden. Die DDR hat an Schrecken verloren.“

Das ist nicht mal übertrieben. Ehemalige Stasi-Generäle trauen sich neuerdings öffentlich was. Sie treten in Gruppen auf, sie leugnen, sie publizieren selbstbewusst Bücher mit ihrer Sicht der Dinge. Psychische Folter? Menschenrechtsverletzungen? Tut ihnen leid, kennen sie nicht, sie schwören, sie waren doch dabei! Menschen, deren Lebensentwürfe vom DDR-Staat verpfuscht wurden, müssen sich hingegen vorhalten lassen, dass ihr Unrecht ja gar nicht nachweisbar sei, es gebe keine Akten. Die Frage der SED-Opferrenten ist weiterhin ungeklärt, und ein Drittel der Ostdeutschen ist Umfragen zufolge inzwischen der Meinung, dass die DDR keine Diktatur war.

Hubertus Knabe bringt das zur Verzweiflung. Die Gelassenheit verlässt ihn bereits, wenn das Fernsehen Ostalgie-Shows zeigt oder das Kino „Good Bye, Lenin“. Er wittert SED-Verherrlichung, wenn Händler auf Flohmärkten DDR- Devotionalien verticken oder das „Kommunistische Manifest“. Die DDR, das ist für ihn verstaatlichte Tyrannei, vor deren Verharmlosung man sich gar nicht genug fürchten kann.

Wer nun, wie die meisten seiner Historiker-Kollegen, freundlich anmerkt, dass die DDR mehr war als nur Repression, den unterbricht er barsch: „Nach der friedlichen Revolution ging es um zweierlei: den Unterdrückungsapparat freizulegen und den wenigen, die sich dem Regime entgegengestellt haben, ein bleibendes Denkmal zu setzen. Dazu ist es leider nicht gekommen.“

Es ist Konsens in der internationalen Diktaturforschung, dass zum Verstehen einer Diktatur auch ihr Alltag gehört. Denn, um es vereinfacht zu sagen: Nimmt man die Diktatur einmal weg, bleiben immer noch die Menschen und ihr gelebtes Leben. Diesen Grundsatz lässt Hubertus Knabe nur bedingt gelten: „Es zeugt nicht gerade von Sachkenntnis, wenn man am grünen Tisch beschließt, in Berlin ein neues Alltagsmuseum zu errichten.“

Im Gegensatz zu anderen weiß er schließlich, wovon er spricht. Findet er.

Hubertus Knabe wird 1959 im westfälischen Unna geboren, in Mülheim an der Ruhr wächst er auf. „Meine Eltern“, erzählt er, „haben uns immer gesagt, sie seien in den Westen gegangen, damit wir mal Abitur machen können.“ Der Forstwissenschaftler Wilhelm Knabe und seine Frau haben bereits drei Kinder, als sie sich 1959 entschließen, aus der DDR in die Bundesrepublik zu flüchten. Dort wird ihr jüngster Sohn Hubertus geboren. Die DDR, das sind für ihn zunächst viele Familienbesuche.

Sein Leben aber spielt im Westen: der Vater erst bei der CDU, dann ein Mitbegründer der Grünen, der Sohn ein kluger Bursche, linksradikale Stadtzeitung, Friedensbewegung, blockübergreifend, das ist seiner Familienbiografie geschuldet. Ein ordentlicher Klavierspieler sowieso und auf dem Zeugnis Sehrguts und Guts. „Die Knabes waren vom Prinzip her ein ganz klassischer westdeutscher grüner Haushalt“, sagt ein Bekannter aus der Zeit.

Hubertus Knabes Fixierung auf die DDR beginnt Ende der 70er-Jahre. Über seine Cousins bekommt er Kontakt zu kirchlichen Friedenskreisen. Er verliebt sich in eine ostdeutsche Theologiestudentin. Das Paar durchlebt sämtliche Schikanen einer Ost-West-Beziehung. Überwachung von Briefen und Telefonaten. Penible Kontrollen bei seiner Einreise. Das Angebot an sie, sie könne ihrem West-Freund ja ins nichtsozialistische Ausland folgen, sofern sie ihr Kind in der DDR zurücklasse. Schließlich, 1980: Einreiseverbot für ihn.

Der persönliche Verrat

Knabe ist geschockt. Die Frau, die er liebt, kann nicht zu ihm und er nicht zu ihr. Warum? Die Frage lässt ihn nicht los. Sicher, er hat an der Universität Bremen ein Rudolf-Bahro-Komitee zur Freilassung des Dissidenten gegründet. Und als Pressesprecher der Bremer Grünen Liste stand er wohl auch unter Beobachtung. Er hat verbotene politische Literatur in die DDR eingeschleust. Aber wer hätte davon wissen können? Eigentlich gab es keine undichte Stelle.

Ein Diplomat brachte die Bücher über die Grenze, dort nahm sie der Pfarrer Frank Rudolph in Empfang, ein Oppositioneller aus Herzfelde bei Templin, mit dem Knabe und seine Freundin gut befreundet waren. Manchmal übernachteten sie bei ihm, sie erzählten ihm, was sie bewegte, politisch wie privat. Einmal, nach einer Buchlieferung, wurde Rudolphs Auto geklaut. Als es Tage später wieder auftauchte, fehlten die Bücher.

Hubertus Knabe argwöhnte nichts. Etwaige Stasi-Spitzel, dachte er, wären ihm doch aufgefallen, „diese Gelenktäschchen. Man sah es ihnen doch an der Nasenspitze an.“ Er hielt damals nicht für möglich, was ihm später, da war die Mauer längst gefallen, ein ehemaliger Stasi-Abteilungsleiter offenbarte: „Wir haben niemanden geschickt, sondern die genommen, die da waren.“

1981 dürfen seine Freundin und ihr Sohn doch gemeinsam ausreisen. Der Kontakt zu Rudolph wird sporadisch. Die Knabes heiraten. 1985 kommen auch die Rudolphs in den Westen. Sie ziehen in den Frankfurter Raum, die Knabes wohnen in Bremen. Dann fällt die Mauer. Die Stasi-Zentralen werden gestürmt, Anfang Januar 1992 werden die Akten geöffnet. Hubertus Knabe arbeitet zu dieser Zeit als Wissenschaftler in der Stasiunterlagenbehörde unter Joachim Gauck. Hier lagern regalkilometerweise die Spitzelberichte, die der DDR-Geheimdienst anfertigen ließ.

Tribunal in Frankfurt

Hubertus Knabe ist einer der Ersten, der seine Akte ungeschwärzt liest. Es findet sich darin auch ein Foto der angeblich aus dem Auto gestohlenen Bücher, neben den vielen anderen Berichten, die Frank Rudolph brav an die Stasi abgeliefert hat. Anderen jungen Menschen, die dem Pfarrer blind vertrauten, besorgte Rudolph Fluchtpläne, um sie sodann an Ort und Stelle verhaften zu lassen.

Man kann Hubertus Knabes Leid, gemessen an dem Unrecht, das anderen in der DDR widerfahren ist, für vernachlässigenswert halten. Aber wenn das Vertrauen ausgerechnet von dem Menschen erschüttert wird, mit dessen vermeintlicher Integrität man einen wichtigen Lebensabschnitt verbindet, fühlt sich der Verrat tonnenschwer an. „Der Staatssicherheitsdienst hat die Schwächen der Menschen gezielt ausgenutzt: die Fähigkeit, mit zwei Gesichtern aufzutreten“, sagt er heute. Er klingt plötzlich weich, man ahnt, wie wenig er das verwunden hat.

Knabe reicht, was er liest. Den Rest überlässt er Dritten. Seine Frau und ein Theologenpaar, das wegen Rudolphs Verrat Monate in Stasi-Gefängnissen verbringen musste, fahren nach Frankfurt. Sie überraschen Frank Rudolph und seine Frau an ihrem Arbeitsplatz – in Begleitung eines Stern-Reporters. Das Ganze gerät zum Tribunal. Frank Rudolph zeigt sich schließlich selbst an. Er ist einer der wenigen IMs aus dem Bereich der Kirche, die nach der Wende in der Bundesrepublik wegen Spionage verurteilt werden: zu einer Bewährungsstrafe und 10.000 Mark Geldstrafe.

Hubertus Knabe in seinem Berliner Direktorenbüro erwähnt die Gegenüberstellung von Frankfurt und die Verurteilung von damals mit keinem Wort. Er sagt nur: „Die Überwachungsdichte in der DDR war so groß, dass ich für niemanden die Hand ins Feuer legen würde – außer für mich selbst.“

Er ist ein einsamer Mensch geworden. Einer, der Opferschicksale lexikalisch abspeichert und keine Zwischentöne zulässt, wenn es um die Stasi geht. Der Verrat durch den Pfarrer ist ja nicht der einzige. Er findet weitere Namen: ein Vorstandsmitglied der Grünen, ein Pressesprecher der Universität Bremen. Das Original des Konzepts seiner Doktorarbeit ist in seiner Akte abgeheftet.

Es sind Erfahrungen, die er nicht mehr loswird. Öffentliche Einmischung ist seine Art des Umgangs damit, bis heute. Gegen den ARD-Sportkoordinator Hagen Boßdorf erstattet er im April Anzeige wegen einer angeblich widersprüchlichen Aussage zu dessen Stasi-Kontakten in den 80er-Jahren. Der ARD schreibt er, er könne sich nicht vorstellen, wie sie mit Hilfe Boßdorfs über den gesamtdeutschen Sport berichten wolle. Den Präsidenten des ehemaligen Stasi-Fußballclubs BFC Dynamo lässt er im Juni bei einer Veranstaltung zum Thema Stasi und Fußball so lange beschimpfen, bis der Präsident, zermürbt, in Knabes Vorschlag einwilligt, sich mit ihm über eine Darstellung der Vereinsgeschichte zu verständigen. Eingeladen hatte den BFC-Präsidenten die Gedenkstätte Hohenschönhausen.

Man kann seine Manöver als schwer erträglich empfinden. Für die Stasi-Opfer aber ist Hubertus Knabe vermutlich der beste Lobbyist, den sie haben können. Er, der bevorzugt austeilt und sich entnervt abwendet, wenn man seiner Logik nicht folgen mag, entwickelt eine bemerkenswerte Zugewandtheit, wenn es um die Menschen geht, die gelitten haben. Sollen sie ihm ruhig kommen mit ihren immer gleichen Anliegen, mit ihrer Verzweiflung, zuweilen wirr reden. Geduldig hört er ihnen zu, filtert, formuliert politische Forderungen in einer Sprache, die viele Stasi-Opfer nicht beherrschen, die aber nötig ist, um in der Berliner Republik Gehör zu finden.

Die Wahl seiner jeweiligen Verbündeten fällt beliebig aus. Mal ist es der CDU-Fraktionschef Volker Kauder, den er bei einem Besuch in der Gedenkstätte hofiert, mal der SPD-Generalsekretär Hubertus Heil, dann osteuropäische Wissenschaftler, die er einlädt zu Workshops über die museale Darstellung kommunistischer Herrschaftssysteme in Europa. Wer ihm gerade mächtig oder aussichtsreich erscheint, sich für seine Zwecke einspannen zu lassen, mit dem paktiert er.

Seine Öffentlichkeitsarbeit bezeichnen selbst loyale Mitarbeiter der Gedenkstätte als „exorbitant“. Ihm, dem ehemals linkspazifistischen Jugendlichen, scheint es mittlerweile unerheblich, dass er in der Debatte um ein Gedenkstättenkonzept einen Verbündeten ausgerechnet in CDU-Kulturstaatsminister Bernd Neumann findet. Vor ein paar Jahren hatte Neumann als CDU-Landesvorsitzender in Bremen noch mit allen Mitteln die Wehrmachtsausstellung zu verhindern versucht. „Von dem üblichen Links-rechts-Schema halte ich wenig“, sagt Knabe. „In den meisten Parteien gibt es sehr aufrechte Leute – und große Opportunisten.“

Wenn man denen glaubt, die ihn von früher kennen, dann hat er sich seit der Akteneinsicht stark verändert.

So rigoros, so unversöhnlich

Frankfurt am Main, Herbst 2006. Frau Rudolph ist sofort am Telefon. „Hubertus“, sagt sie, „das war ein ganz netter Bursche, ein total friedlicher, ausgeglichener Mensch.“ Sie weint. Sie weiß, es ist die Schuld ihres Mannes, dass die alten Freunde mit ihnen gebrochen haben. Bis 1992, sagt sie, habe sie selbst nichts vom Doppelleben ihres Mannes geahnt. „Aber das Leben ist nicht schwarz-weiß“, sagt sie. „Mein Mann stand doch total unter Druck, er kam aus diesem System nicht mehr raus“.

Frank Rudolph möchte sich nicht zu der Sache äußern, nicht am Telefon, nicht persönlich, nicht gegenüber der Presse. Mit Hubertus Knabe, lässt er ausrichten, sei ein Gespräch aber möglich, wenn dieser das wünsche. Seine Frau kann sich das nicht vorstellen. Sie sieht ihn ja immer mal im Fernsehen. „Er ist so rigoros geworden“, sagt sie, sie weint jetzt wieder, „das Wort Versöhnung kennt er nicht.“

So rigoros, so unversöhnlich. Hubertus Knabe hat Bücher geschrieben. Nach deren Lektüre könnte man glauben, die Stasi habe die Aktivitäten der westdeutschen Studenten- und Friedensbewegung gesteuert, ja mehr noch: die gesamte politische Klasse der BRD, Medien inklusive, sei vom DDR-Geheimdienst massiv unterwandert gewesen. Es waren aber keine Krimis, sondern Sachbücher. Die Kritik war programmiert.

Knabe arbeitete damals noch in der Gauck-Behörde. Die wissenschaftlichen Belege für manche seiner streitbaren Thesen waren Stasi-Akten entnommen, die aus Sicht der Behörde die Privatsphäre von Stasi-Opfern verletzten. Es gab Streit. Joachim Gauck setzte Knabe 1999 als Sachgebietsleiter ab, als der einen Teil seiner Forschungsergebnisse über die Stasi-Westarbeit in einem anderen als dem Hausverlag der Behörde publizierte.

Gaucks Nachfolgerin Marianne Birthler versuchte 2001, Knabes Publikation, „Der diskrete Charme der DDR“, über die Verstrickungen von Stasi und Westmedien aus Datenschutzgründen per einstweilige Verfügung zu verhindern – vergeblich. Hubertus Knabe veröffentlichte sein Buch mit Verspätung. Derweil ließ er sich, bitterböse, Anfang 2001 auf den Posten in der Gedenkstätte Hohenschönhausen wegloben.

Für die ungewöhnliche Häme über seine Bücher zeichneten die Feuilletons verantwortlich. Zeitgeschichtler, Exkollegen, DDR-Kundler aus dem Westen, kurz: die Grüßgottfraktion, bisweilen geneigt, die Dokumente der Stasi für unverbindliche Gedankenexperimente zu halten und die DDR schlimmstenfalls für ein autoritäres Regime.

Es sind dieselben Fachleute, die ihm heute, in der Debatte um Stasiunterlagengesetz und Gedenkstättenkonzept, eine „Zwangsdämonisierung der DDR“ vorwerfen, wahlweise „Verschwörungs- und Verfolgungswahn“. Zur Beurteilung seiner Arbeit in Hohenschönhausen bemühen sie Begriffe wie „inhaltliche Dürftigkeit“, „Unprofessionalität“ oder „Schockpädagogik“. Das alles freilich nur, wenn man verspricht, unter keinen Umständen ihre Namen mit diesen Unterstellungen zu verknüpfen. Zum einen liegt das an der – begründeten – Angst vor Knabes Hang zu Gegendarstellungen und Strafanzeigen.

Zum anderen aber gehen vielen schlicht die Worte aus, wenn sie mal konkret sagen sollen, was genau sie an der Gedenkstätte unter Knabes Leitung so stört. Dessen Konzept ist, die Geschichte nicht anhand von Schautafeln darzustellen. Stattdessen werden Besucher von ehemaligen Insassen durchs Gefängnis geführt. Sie schildern die Haftbedingungen und die Verhörmethoden, die sie erlebt haben. 140.000 Menschen haben die Gedenkstätte im letzten Jahr besucht, davon 56.000 Schüler. Zahlen, die andere Einrichtungen neidisch machen.

Die wenigsten seiner Kritiker haben sich die Mühe gemacht, einmal selbst an einer Führung teilzunehmen. Den tatsächlichen Besuchern aber sprechen sie pauschal die Fähigkeit ab, wahrnehmen zu können, dass der Bericht eines ehemaligen Inhaftierten zwangsläufig subjektiver ausfällt, als der eines geschulten Museumsführers es würde.

Was der Gedenkstätte Hohenschönhausen wirklich fehlt, ist das Wissen über ihre eigene Geschichte. „Repräsentative Angaben über die soziale Zusammensetzung der Gefangenen oder über die Gründe und die Dauer ihrer Inhaftierung liegen nicht vor“, klagt Hubertus Knabe. Es mangelt an Personal, Geld und Schriftquellen. Nicht mal die genaue Zahl der Häftlinge sei bekannt. Doch genau diesen Forschungsauftrag hat die Gedenkstätte. Der Stiftungsrat hat Knabe deswegen bereits ermahnt.

Es fehlt auch eine Dauerausstellung, die die Haftanstalt in den Repressionsapparat einordnen und ihre Bedeutung aufzeigen würde. Ohne sie sagen die Mauern von Hohenschönhausen, Authentizität hin oder her, wenig. Es war Knut Nevermann (SPD), damals Ministerialdirektor bei der Kulturstaatsministerin Christina Weiss, der vor bald drei Jahren befand, dass Hubertus Knabe von dieser Aufgabe befreit werden solle. Nicht etwa, betont er heute, weil er ihn für unfähig gehalten habe, eine Ausstellung zu konzipieren, im Gegenteil: „Der ist ein guter Forscher, auch wenn er sich für den Größten hält. Nur hat er gar nicht das Geld und das Personal, um so eine Ausstellung zu stemmen. Aber so eifrig, wie der drauf ist, hatte ich damals Angst, der geht gleich in den Keller, holt die Laubsäge und sägt die Schilder selbst.“ Knut Nevermann kichert bei dieser Vorstellung.

Angekommen in Berlin

Seit bald sechs Jahren ist Hubertus Knabe jetzt Leiter der Gedenkstätte. Der Zugang zu den ungeschwärzten Akten, ohne die er das Thema seines Lebens, die Stasi-Westarbeit, nicht vollenden kann, ist ihm verbaut. Die Niederlage hindert ihn nicht daran, bei der Vertretung der Opferinteressen eine ähnliche Obsession und Radikalität zu entwickeln wie zuvor bei seiner Arbeit in der Birthler-Behörde.

Hubertus Knabe ist nachtragend. Er lässt keine Gelegenheit aus, die Arbeit der Stasiunterlagenbehörde zu diskreditieren. Mal bemerkt er: „Wahrscheinlich war es von Anfang an ein Konstruktionsfehler, wissenschaftliche Aufarbeitung in einer Behörde betreiben zu wollen. Eine Behörde beruht nun einmal auf Befehl und Gehorsam, während ein Wissenschaftler frei sein muss.“ Ein anderes Mal, im Streit um die Offenlegung der Namen von Bundestagsabgeordneten, die bei der Stasi als Inoffizielle Mitarbeiter erfasst waren, ätzt er: „Die Blockade scheint System zu haben und führt zu dem fatalen Eindruck, dass beim Umgang mit der Stasi Ost und West mit zweierlei Maß gemessen werde.“ Er guckt dabei aus braunen Augen, die im Gegensatz stehen zu der Unerbittlichkeit seiner Aussagen.

Mitte November kommt der Bundespräsident nach Hohenschönhausen. Das Stasiunterlagengesetz ist soeben überraschend von der Tagesordnung des Bundestags genommen worden, es soll noch einmal generalüberholt werden. Horst Köhlers Besuch war seit Juni geplant, und doch wirkt der Termin jetzt wie Knabes Coup. „Ich bin bedrückt von dem, was ich gesehen habe“, sagt der Bundespräsident nach einem Rundgang und Gesprächen mit ehemaligen Inhaftierten den Kameras. Er steht etwas erhöht auf einer Treppe, damit sie ihn besser filmen können. „Die Opfer haben es verdient, dass ihnen besser zugehört wird.“ Köhler selbst hat gerade erfahren, dass er als Mitarbeiter des Bundesfinanzministeriums in den 80er-Jahren von der Stasi bespitzelt wurde. Seine Eindrücke, verspricht er mit Blick auf das Gesetz, werde er „weitergeben“.

Hubertus Knabe steht rechts neben dem Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland, ganz dicht, auf derselben Treppenstufe. Er guckt so zufrieden wie einer, der das Gefühl hat, endlich in seiner Liga angekommen zu sein.