Profit macht nur der Kiez

taz-Serie „Solidarische Ökonomie“ (Teil 1): Die „Stadtteilgenossenschaft Wedding“ verknüpft wirtschaftliches und soziales Engagement: Der Gewinn, den die Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe erwirtschaften, wird in soziale Projekte investiert

von MARKUS WANZECK

Wer sich vom Leopoldplatz auf den Weg zum „Sprengelhaus“ begibt, dem Sitz der Stadtteilgenossenschaft Wedding, passiert in der Luxemburger Straße ein Turkish-Airlines-Büro, den Asia-Supermarkt Wah Fung, ein Reisebüro, dessen Fenster mit chinesischen Schriftzeichen übersät sind, und eines, das türkische Reiseziele auf Türkisch anpreist. Keine Frage, der Sprengelkiez ist ein Kiez der Kulturen. Ein typisches Weddinger Quartier eben: Jeder dritte Einwohner ist nichtdeutscher Herkunft.

Aber noch etwas anderes fällt auf im Sprengelkiez: Ketten bunter Wimpel, die zwischen Häusern und Bäumen über den Gehsteig gespannt sind. In der Sprengelstraße wird es richtig bunt. Wedding im November wirkt hier ein wenig wie Köln im Karneval. In der Tür des „Sprengelhauses“ steht Willy Achter, ein kahlköpfiger, fröhlicher Mittvierziger, und bittet herein.

Wie es zur Gründung der Stadtteilgenossenschaft vor sechs Jahren kam? „Im Kiez herrschten eine hohe Dauerarbeitslosigkeit und Resignation – einerseits. Andererseits lag so viel unerledigte Arbeit auf der Straße.“ Achter meint verwahrloste Grünanlagen, heruntergekommene Häuser, leerstehende Gewerbeflächen. Der Grund dafür war klar: „Die öffentlichen Kassen sind leer, und für Investoren der Privatwirtschaft war unsere Gegend alles andere als attraktiv.“ Dennoch wollte Achter den Verfall nicht wie ein Naturereignis hinnehmen. Etwas musste geschehen. Aber was? Ein Netzwerk an Kontakten, über Jahre des ehrenamtlichen Engagements in der Quartiersentwicklung gewachsen, war alles, was dem diplomierten Landschaftsbauer zur Verfügung stand.

Es reichte für den Anfang. Willy Achter fand 36 Mitstreiter: Anwohner, Arbeitslose, Vertreter gemeinnütziger Organisationen. Gemeinsam gründeten sie im Oktober 2000 die „Stadtteilgenossenschaft Wedding für wohnortnahe Dienstleistungen“. Die Rechtsform der Genossenschaft wählten sie, weil das Projekt auf den Prinzipien der Solidarität, Selbsthilfe und Selbstverantwortung fußt. Jeder Miteigentümer hat gleiches Mitspracherecht – „ein Mensch, eine Stimme“. Zudem seien gemeinwohlorientierte Ziele in der Satzung verankert – konkret: „das Ausbrechen aus der sozialen Abwärtsspirale durch stadtteilbezogene Aktivierung der Bewohner, nachbarschaftliche Selbsthilfe und Förderung lokaler Beschäftigungsinitiativen“.

Zumindest mit der Aktivierung hat es geklappt. Heute zählt die Genossenschaft rund 90 Mitglieder. Ihre Vernetzung ermöglicht ihnen etwa, Großaufträge zu akquirieren. Privatpersonen gehören ihr ebenso an wie 19 Mitgliedsbetriebe und gemeinnützige Organisationen. Die Genossenschaftsstruktur ist komplex geworden. Achter betreibt Komplexitätsreduktion: Auf ein Blatt Papier zeichnet er zwei Säulen. „Wirtschaft“ heißt die erste, „Soziales“ die zweite. „Beides sind genossenschaftliche Ziele“, insistiert er. Man möge ihn bloß nicht in die soziale Ecke stellen.

Auf die Wirtschaftssäule schreibt Willy Achter die drei ökonomischen Elemente der Genossenschaft: Maler- und Lackiererbetrieb, Dienstleistungsagentur, Stadtteilmarketing. Letzteres ist dafür zuständig, den Genossenschaftsmitgliedern auf Provisionsbasis Aufträge zu vermitteln, sie miteinander zu vernetzen und nach außen zu vermarkten. Etwa durch die Wimpelketten: „Die sind noch von den Sprengelwochen.“ Die „Sprengelwochen“, die die Zusammenarbeit der Geschäfte im Kiez fördern soll, wurden 2004 von der Genossenschaft ins Leben gerufen. Über 70 Unternehmen haben sich in diesem Jahr an der Aktion beteiligt.

Das Malergeschäft ist das Herzstück der Genossenschaft. Es steuert den Großteil des Umsatzes bei. Ursprüngliches Ziel war es, für den Betrieb Arbeitslose aus dem Stadtteil anzuheuern und so in die Erwerbsarbeit zu überführen. Damit sei man jedoch irgendwann an Grenzen gestoßen, sagt Achter. Auch weil manche die Genossenschaft mehr als soziales Sicherungsnetz denn als Wirtschaftsunternehmen verstünden. 2002 habe man sich zu einem Einschnitt entschlossen und das Malergeschäft in einen professionellen Betrieb überführt. Der hat derzeit vier Festangestellte, Arbeitslose können nur noch Praktika absolvieren.

Willy Achter, der gelassene Erzähler, wird etwas lauter: „Wir sind kein Non-Profit-Unternehmen – wir sind ein Not-for-Profit-Unternehmen.“ Der Unterschied: Gewinn ist Ziel, aber nicht Selbstzweck. Er darf nur für genossenschaftliche Ziele verwendet werden. Die soziale Säule auf der Skizze enthält einige davon: „Partnerschaftsprojekte“ steht dort, „Berufsintegration“ und „Gemeinwesenzentrum“. Sie alle hängen auf ganz einfache Weise zusammen: Die Räume des Gemeinwesenzentrums Sprengelhaus werden kostenneutral an berufsintegrative Projekte vermietet, die Menschen mit und ohne Migrationshintergrund aus der Langzeitarbeitslosigkeit loseisen.

Die Weiterbildungsprojekte des Sprengelhauses, die Namen tragen wie „Parcours zur Erwerbssicherung“ oder „Integration in der Mitte Berlins“, erhalten Fördermittel vom Quartiersmanagement, vom Bund und von der EU. Bezahlen müssen die Teilnehmer nichts, aber sie investieren etwas: Eigeninitiative. „Die Teilnehmer müssen von sich aus zu uns kommen“, erklärt Achter. „Die Kurse sind eben keine vom Arbeitsamt zugewiesenen Maßnahmen, bei denen die Arbeitslosen gegängelt werden, wenn sie nicht erscheinen. Dadurch stellen wir Motivation sicher.“ Im Anschluss an die Weiterbildung ist die Genossenschaft bei der Jobvermittlung behilflich – im Idealfall in eines der Mitgliedsunternehmen.

Beim Blick zurück auf sechs Jahre Genossenschaftsarbeit wird Willy Achter nachdenklich. Ist der Ausbruch aus der Abwärtsspirale gelungen? „Wenn man heute auf den Sprengelkiez blickt, sieht man schon einige Erfolge“, sagt er. „Als wir unsere Arbeit aufgenommen haben, hat sich kaum jemand für den Stadtteil interessiert. Jetzt engagieren sich ganz viele.“ Das Image habe sich verbessert. Die Leute fühlten sich im Kiez wieder zu Hause – und für ihn verantwortlich. Es scheint, als habe der Solidaritätsgedanke ein wenig auf den Stadtteil abgefärbt.

Auf dem Kongress „Solidarische Ökonomie“ (s. Text unten) wird Achter am Wochenende einen Vortrag über „seine“ Genossenschaft halten. Wieder einmal. Er klingt etwas unzufrieden, als er das erzählt. Warum? „Wir werden ständig als Vorbild herumgereicht.“ Meist stellten andere die Fragen und er müsse erzählen. Dabei habe er selbst genug Fragen, für die ihm ein Ansprechpartner auf Augenhöhe fehle. Es sei nicht leicht, ständig als Modellprojekt die Fahne der sozialen Ökonomie hochzuhalten. „Manchmal“, sagt Achter, „ist es ziemlich einsam hier oben.“