Den fetten Kindern geht es an die Kilos

Übergewicht ist auch in Europa ein Problem der Unterschicht: Wie Lehrer Schüler dünner und schlauer machen wollen

„Feed me better“, sagt der Liebling der britischen TV-Gourmets, Jamie Oliver. „Ernähr mich besser“ ist eine Art öffentliche Diät und wird seit September in britischen Schulkantinen praktiziert. Dort sollen die Schüler lernen, ernährungsbewusst zu kochen. Statt „Fish and Chips“ stehen Obst und Gemüse auf dem Speiseplan. Statt Cola gibt es Wasser und fettarme Milch in britischen Lehranstalten. Denn jedes vierte britische Kind ist zu dick. Vor zehn Jahren war es nur jedes zehnte.

Auch in Deutschland tobt der institutionelle Kreuzzug gegen die fetten Kinder. Seit die damalige Verbraucherschutzministerin Renate Künast 2003 das Phänomen für sich entdeckte, müssen auch Jugendliche mit Diättipps umgehen. Die einschlägigen Initiativen des Ministeriums tragen Namen wie „Besser essen. Mehr Bewegen. Kinderleicht“ und „Plattform Ernährung und Bewegung“. Mit ihnen werden mittlerweile auch unter Künasts Nachfolger Horst Seehofer (CSU) Dutzende regionale Modellprojekte, Arbeitskreise und Forschungsinitiativen gefördert.

„Praktisch ist bei uns in den Schulen davon noch viel zu wenig angekommen“, schimpft Ludwig Eckinger. Der Vorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung und selbst Träger eines ansehnlichen Bierbäuchleins findet, dass „zu wenige Schulen ihren Schützlingen Mittagessen servieren. Außerdem fällt jede vierte Sportstunde aus.“

Dabei sind die deutschen Schüler noch fetter als bisher angenommen: 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Alter zwischen 3 und 17 Jahren sind übergewichtig. Mehr als ein Drittel der Betroffenen leidet gar unter Adipositas, einer krankhaften Fettleibigkeit. Das geht aus den jüngsten Zahlen des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys des Robert-Koch-Instituts hervor. Von 2003 bis 2006 wurden für diese erste umfassende, repräsentative Untersuchung mehr als 17.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland befragt.

Besonders schockierend: In erster Linie sind Sprösslinge aus sozial benachteiligten Schichten und aus Migrationsfamilien betroffen. Sie sind öfter übergewichtig, haben mehr Essstörungen und treiben viel weniger Sport als ihre Altersgenossen aus begütertem Elternhaus. Die Unterschichtendebatte ist also um ein Kapitel reicher.

Das bringt die Pädagogen auf die Barrikaden. Auf dem Deutschen Lehrertag in Darmstadt debattierten sie vergangene Woche ausführlich über die „Generation XXL – Welche Chance hat die Schule?“. Ihr ehrgeiziges Ziel: „Den verhängnisvollen Teufelskreis zwischen Bildungsarmut, Übergewicht und Krankheit durchbrechen.“

Ein Teufelskreis, der in praktisch allen Industrienationen für Kopfzerbrechen sorgt. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Fettleibigkeit unter den Kindern epidemische Ausmaße angenommen. In den USA, dem Mutterland der Couch Potatoes, ist fast ein Drittel der Kinder unter 10 Jahren zu dick. Auch dort ist Übergewicht ein Schichtenproblem: Kinder der sozial schwachen Minderheiten der afrikanisch- und spanischstämmigen Amerikaner sind weitaus häufiger betroffen als der Nachwuchs der ehemals aus Europa eingewanderten, wohlhabenderen Bürger.

Die europäischen Kinder sind derweil auf dem besten Weg zu amerikanischen Gewichtsklassen: Nach EU-Verbraucherkommissar Markos Kyprianou kämpfen 14 Millionen europäische Kinder mit Übergewicht. Jedes Jahr kommen rund 400.000 dazu. Besonders betroffen sind die Kinder in Südeuropa, weil dort Gerichte mit viel Fett, Zucker und Salz die traditionelle, mediterrane Kost verdrängen. Auch dort dürfte es einen Zusammenhang zwischen Armut und Übergewicht geben.

In Deutschland will Verbraucherschutzminister Seehofer im nächsten Jahr einen neuen „Aktionsplan Ernährung“ vorlegen. Der „Verband Bildung und Erziehung“ fordert Sportunterricht nach Lehrplan, Pausenhöfe mit Sportgeräten, mehr Ernährungsberatung und Schulverpflegung nach gesunden Mindeststandards.

Wie der Nachwuchs auf so viel Gesundheitsbewusstsein reagiert, zeigt das Beispiel England. Die „Feed me better“-Initiative mit Fernsehkoch Jamie Oliver stößt den Kids, die der Star- koch als die „ungesündesten in ganz Europa“ bezeichnet, übel auf. In mehr als der Hälfte der befragten Schulen nahm laut BBC die Zahl der vor Ort essenden Kinder ab. Der Schwarzmarkt mit Süßigkeiten auf den Pausenhöfen boomt.

CHRISTOPH GERKEN

MARTIN LANGEDER