Gefährdet die Wahrheit den Weltfrieden?
JA

WIKILEAKS Diplomaten sprechen von einer Gefahr für den Frieden, andere von dringend notwendiger Transparenz: Dank der Enthüllungen auf der Internetplattform Wikileaks weiß die Welt, was Politiker wirklich voneinander denken

Die sonntazfrage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagnachmittag. Wir wählen interessante LeserInnenantworten aus und drucken sie in der nächsten sonntaz.

taz.de/sonntazstreit

John Kornblum, 67, war der ehemaliger Botschafter der USA

in Deutschland

Ihre Frage setzt voraus, dass die Veröffentlichung vertraulicher Dokumente der Bereitstellung von Wahrheit gleichkommt. Doch alles über private Unterhaltungen zu wissen bedeutet nicht unbedingt, dass man die Wahrheit kennt. Tatsächlich kann das sogar der Wahrheitsfindung schaden. Ich war im Laufe meiner Karriere an mehreren höchst sensiblen diplomatischen Verhandlungen beteiligt. Die aufregendsten waren sicher die zu Dayton, die 1995 zum Ende des Bosnienkrieges führten. Die „Wahrheit“ bedeutete hier, das Töten zu beenden. Die Gespräche waren höchst kompliziert und zeitweise auch emotional. Die Tatsachen der einen Seite waren die Lügen der anderen. Nur durch streng vertrauliche Gespräche waren wir in der Lage, ein Ergebnis zu erzielen. Hätte es Wikileaks gegeben, hätten die Enthüller argumentiert, dass die Welt nur durch die Veröffentlichung dieser Gespräche die Wahrheit erfahren könne. Die „Wahrheit“ hätte in dem Fall jedoch die Fortsetzung eines mörderischen Krieges bedeutet.

Peter Scholl-Latour, 86, ist Journalist, Autor, Talkshow-Gast und Nahost-Kenner

Die Sache hat natürlich zwei Aspekte: Zum einen ist es zu begrüßen, wenn durch solche Enthüllungen Gefahren verhindert werden können. Andererseits wird dadurch Vertrauen abgebaut, die Privatsphäre sowieso, wir sind ja mittlerweile zu gläsernen Menschen geworden. Das ist durchaus eine furchterregende Entwicklung. Es braucht heute nur noch Einzelpersonen, um solch große Menge geheimer Daten an die Öffentlichkeit zu bringen! Im Falle der jüngsten Veröffentlichung sind die deutschen Politiker ja noch vergleichsweise gut weggekommen. Ein paar orientalische Potentaten sind jetzt vielleicht beleidigt, eine Gefährdung des Friedens im Nahen Osten ist in diesem speziellen Fall aber wohl nicht zu erwarten. Doch das Fatale ist: Diplomatie ist unter diesen Bedingungen nicht mehr möglich. Wer wird nun noch ein vertrauliches Gespräch mit Diplomaten führen? Das Vertrauen ist zerstört, und das kann durchaus bedenkliche Folgen haben. In manchen Fällen sind geheime Verhandlungen absolut notwendig für den Friedenserhalt. Undenkbar, was passiert wäre, hätte es solche Indiskretionen während der Kuba-Krise gegeben! Heute befinden wir uns alle unter ständiger Beobachtung, Telefongespräche werden abgehört, vielleicht nicht von deutschen, sicher aber von US-amerikanischen Behörden. Wie sich das weiterentwickelt, wird man abwarten müssen, wir stehen ja noch am Anfang dieser elektronischen Entwicklung.

Michael Brzoska, 57, ist Direktor des Instituts für Friedensforschung und

Sicherheitspolitik

Die Wikileaks-Veröffentlichung ist für die Betroffenen eher peinlich. In bestimmten Situationen kann es wichtig sein, dass Positionen nicht an die Medien geraten – schon gar nicht vor dem Ende wichtiger Verhandlungen. Politiker oder Diplomaten sind sonst öffentlich auf diese Haltung festgelegt und haben keinen Verhandlungsspielraum mehr. Wird ein Kompromiss ausgearbeitet, kann es am Ende aussehen, als hätte man nachgegeben. Im Wikileaks-Fall ist der Frieden nach meiner Einschätzung jedoch nicht unmittelbar gefährdet. Durch die Cables wurden eher bestimmte Positionen als Scheinpositionen entlarvt, etwa die Haltung Chinas oder Saudi-Arabiens gegenüber Iran. Das ist nichts Schlechtes, diese Länder würden von mehr Transparenz profitieren. Wenn Dinge geschehen, die von demokratischen Verfahren nicht gedeckt sind, dann ist das sogar notwendig. Auch die Geschichte zeigt, dass mangelnde Geheimhaltung problematisch sein kann: Als 1970 die deutsch-sowjetischen Verträge ausgehandelt wurden, kamen Details zu früh an die Presse, Willi Brandt und Egon Bahr trugen erheblichen innenpolitischen Schaden davon.

NEIN

Rolf Mützenich, 51, ist außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag

Spontan würde ich mit „Nein“ antworten – zumal es weder die „Wahrheit“ noch den „Weltfrieden“ gibt. Sicher: die Wikileaks-Veröffentlichungen haben das Vertrauen in die amerikanische Diplomatie erschüttert. Zugleich haben sie den technischen Kontroll- und Machbarkeitswahn ad absurdum geführt, der hinter der Vorstellung steckt, man könne Dokumente, zu denen 250.000 Mitarbeiter Zugang haben, geheim halten. Der Inhalt dieser Botschaftsdepeschen ist hingegen keineswegs neu. Die Tatsache, dass viele Führer der arabischen Welt hinter vorgehaltener Hand im Iran mittlerweile eine konkrete Bedrohung sehen, ist ein offenes Geheimnis. Die Veröffentlichung solcher Interna erschweren aber zweifelsohne die Friedensbemühungen im Nahen Osten und Nordkorea. Dennoch: Die Wikileaks-Veröffentlichungen bedeuten nicht das Ende der Diplomatie, der „Weltfrieden“ wird durch ganz andere Dinge gefährdet. Im Übrigen: Wer sagt, dass die Depeschen tatsächlich „die Wahrheit“ abbilden?

Melody Sucharewicz, 30, war Sonderbotschafterin Israels in Deutschland und lebt in Tel Aviv

Die Veröffentlichung von 251.287 internen Cables amerikanischer Botschaften klang furchterregend. Ist die Angst begründet? Ja. Wikileaks rüttelt am Fundament der Diskretion, ohne die diplomatische Beziehungen kaum funktionieren können. Ohne Diskretion kein Vertrauen, ohne Vertrauen keine Kooperation. Wikileaks ist ein Lackmustest für internationale Beziehungen – mit Happy End! Beziehungen zwischen demokratischen Staaten halten Strapazen aus. Dank gilt Julian Assange, der die kollektive Angst vor Ahmadinedschads radikalislamistischem Imperialismus geoutet hat. Die internationale Gemeinschaft muss nun effektiver gegen das Mullah-Regime vorgehen. Nicht Wahrheiten gefährden den Weltfrieden, sondern Fanatiker, die nach der Bombe streben.

Sonia Seymour-Mikich, 59, Journalistin, leitet das ARD-Politmagazin „Monitor“

Komisch: Ausgerechnet politische Eliten, die ohne Weiteres den gläsernen Bürger gutheißen würden, beklagen nun das Ende der Privatheit, weil „die Wahrheit“ über die US-Außenpolitik herauskam. Die Veröffentlichungen seien ein Verstoß gegen die Verantwortlichkeit von Medien. No way, die Enthüllungen werden dem investigativen Journalismus eine Frischzellenkur verabreichen und politische Repräsentanten unter gesunden Rechtfertigungsdruck stellen. Das Recht einer Regierung auf Geheimhaltung ist nicht grundsätzlich größer als das Recht der Öffentlichkeit auf Information und Aufklärung. Ja, die Depeschen sind unfein in Haltung und Ton. Aber bitte abregen: unfein ist nicht ungeheuerlich.

David Hamann, 29, ist Historiker und hat das Thema auf taz.de kommentiert

Die Veröffentlichungen gefährden den Weltfrieden nicht. „Weltfrieden“ gibt es mit oder ohne Wikileaks-Dokumente schon lange nicht mehr. Es gehört seit eh und je zu den Aufgaben von Botschaften, „Denkschriften“ und Ähnliches über das jeweilige Land zu verfassen. Darin befanden sich schon immer kompromittierende und sehr offene Details. Leider hat Herr Assange schon durch die Masse der veröffentlichten Dokumente den Grundsatz seriöser Überprüfung verlassen und dies ausgewählten Medien überlassen. Der eigentliche Skandal liegt deshalb nicht im Inhalt der Dokumente, sondern im vermeintlichen Ende einer investigativen, aber stets der breiten Öffentlichkeit verpflichteten Internetplattform.