Schaumstoff schützt nicht vor Schnee

PREMIERE Hakan Savas Mican hat Orhan Pamuks Roman „Schnee“ auf die Bühne gebracht – in einer wunderbar klaren Inszenierung

Wenn die Verarmung von Gemeinwesen auf männlich-chauvinistische Anführerselbstentwürfe trifft, dann ist die Kacke eben am Dampfen

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Orhan Pamuks Roman „Schnee“, 2002 auf Türkisch veröffentlicht, ist ein Kunststück der Konstruktion, eine wundersame literarische Buddelschiffbastelei: Eine Stadt in Anatolien wird eingeschneit, und prompt zeigen sich in der luftdichten Abgeschlossenheit dieser Laborsituation die politischen und weltanschaulichen Strömungen im Land in gleichzeitig kristalliner wie hochexplosiver Klarheit. In Gestalt von Islamisten, Politikern, Kemalisten, Armeeangehörigen, Koranschülern, Exkommunisten und der großen Liebe seiner Jugend begegnet dem eigentlich in Deutschland lebenden Dichter Ka in seiner Geburtsstadt ein gärender Konflikt, der schließlich katastrophal eskaliert.

Dieses Stoffs hat sich jetzt das Ballhaus Naunynstraße angenommen. Besser gesagt, Hakan Savas Mican. Der türkischdeutsche Regisseur war in diesem Jahr am Ballhaus fast dauerpräsent. Im Frühjahr inszenierte er mit den „Schwänen vom Schlachthof“ eine ziemlich zerfaserte Nummernrevue des Mauerfalls aus migrantischer Perspektive. Und im Oktober erst saßen in „Warten auf Adam Spielman“ diverse deutsche Komplexträger (Ausländerkomplex, SS-Opa-Komplex, Schuldkomplex etc.) in einem apokalyptischen Wald und projizierten krude Heilserwartungen auf einen jüdischen Propheten.

Und jetzt „Schnee“. Am Donnerstag war Premiere. Zusammen mit dem Turkologen Oliver Kontny hat Mican eine Stückfassung aus dem Pamuk-Roman destilliert, die sich mit Figuren, Plot und teilweise fast zitateng geführten Dialogen durchaus wiedererkennbar an die Vorlage hält. Mit einem großen Unterschied: Mican verlegt das Geschehen nach Deutschland. Aus Kars wird Karsberg, aus Scheich Saadettin Efendi Konrad Schlüter, aus der Türkei im Jahr 1992 ein Deutschland einer vielleicht nicht allzu fernen Zukunft, ein Deutschland, das sich aus Sarrazin'scher Perspektive noch ein gutes Stück weiter abgeschafft hat. Was als Idee erst mal wieder recht krude klingt, geht in Micans bisher stringentester und proportioniertester Inszenierung erstaunlich gut auf.

Der Dichter Ka kommt in ein Karsberg, in dem Verarmung und Versiegen der öffentlichen Mittel den Boden bereitet haben für einen neuen Islamismus, dem vor allem Deutsche ohne Migrationshintergrund anhängen. Die Karsberger Muslimszene unter Führung des sexyhexy Fuchspelz- und Lederhosenträgers Grün, eines schlauen, popaffinen Demagogen („Style setzt sich durch. Wir haben Shirts und Kapuzis produziert, die sitzen. Aluma Islamiya keeps you warm, hell yeah!“), wächst, die bravdeutschen, demokratischen Kräfte sind dabei, ihre Mehrheiten zu verlieren, der das Kopftuch verbietende Schulleiter wird Opfer eines Anschlags von – festhalten! – Russlanddeutschen, Ka aus der großen Stadt laviert unbeholfen zwischen den Parteien, und der Kandidat der Partei „Freies Karsberg“ führt ein Antiburkastück auf, in dessen Folge die Gewalt eskaliert.

Der Pamuk'sche Schnee ist auf der Bühne zu einer greifbaren sozialen Kälte geworden, an der auch das ständige Umhäufeln von Schaumstoffstückbergen nichts ändert. Der Schaumstoff isoliert nur ungenügend, die Sehnsucht nach Wärme und Nähe treibt die Menschen immer weiter in die Arme von Radikalismus, Engstirnigkeit und Narzissmus – bis die Kälte so groß wird, dass der Koranschüler Johann angezündet wird. Nora Abdel-Maksoud als Johann ist übrigens das schauspielerische Highlight dieses Abends.

Manchmal stören an dieser Adaption die allzu lokalpatriotischen Anbiederungen ans Berliner Publikum: Dass Ka „im Kiez spazieren war“ oder ein Kopftuchmädchen ihn als „coole Fritte“ tituliert, fällt etwas zu jovial aus. Ansonsten nimmt man die Verpflanzung der Pamuk'schen Geschichte vom Buch auf die Bühne und von Anatolien nach Deutschland als konsistent wahr.

Heraus kommt eine Zukunftsvision, die ohne Wenn und Aber unheimlich ist, die das Gespenstische der Fanatiker und das hilflos-gewalttätige Aufklärerische an keiner Stelle beschönigt. Dabei ist diese Inszenierung keineswegs bloß hysterische Angstmache. Vielmehr arbeitet sie zum Ende hin eine sogar bei Pamuk nicht existente Klarheit heraus, die einer solchen möglichen gesellschaftlichen Entwicklung eine Erklärung mitgibt, die so einfach wie plausibel ist: Wenn die Verarmung von Bürgern und Gemeinwesen auf die Persistenz vielfältiger männlich-chauvinistischer Anführerselbstentwürfe und narzisstischer Kommunikationsunfähigkeit trifft, dann ist die Kacke eben am Dampfen. Wenn das einmal klar ist, erscheint auch eine Kopftuchdebatte deutlich als das, was sie ist: ein vorgeschobenes Symptom, das ablenkt von viel tiefer liegenden Problemen. Punkt. Super.

■ „Schnee“ im Ballhaus Naunynstraße: am 28.+ 29. 11. und vom 1. bis 5. 12., jeweils um 20 Uhr