„Ich rieche noch immer das Blut“

INTERVIEW ULRIKE BRETZ

taz: Herr Hämmerle, was ist am 7. Juni 2003 in Kabul passiert?

Peter Hämmerle: Ich begleitete als Hauptfeldwebel einen Konvoi, mit 29 glücklichen Soldaten, die auf Heimaturlaub gingen. Wir fuhren morgens kurz vor acht Uhr am Camp Warehouse los, wollten über die Dschalalabad-Route zum Militärflughafen. Vorne ich als Konvoiführer im Jeep, dahinter ein Bus mit Gepäck, dann einer mit den Soldaten und wieder ein Geländewagen. Alle Fahrzeuge ungepanzert. Um fünf nach acht waren wir Geschichte. Ein gelbes Taxi, beladen mit 150 Kilo Sprengstoff, raste in den Konvoi. Der Bus mit den Soldaten oder das, was von ihm übrig war, stand mitten auf einem Feld.

Was haben Sie gesehen?

Aus dem Bus kamen Soldaten heraus, die völlig unter Schock standen. Als ich den Bus sichern wollte, sah ich innen einen Soldaten liegen. Ohne Kopf. Andere haben ihre Beine verloren oder waren am Kopf verletzt. Viele wollten weglaufen. Aber wir wussten nicht, ob das Gelände vermint ist und ob Scharfschützen positioniert waren. Also habe ich die Soldaten zum Schutz an eine Mauer gebracht. Wir haben versucht, sie zu verarzten, mit dem wenigen Verbandsmaterial, das wir hatten. In einer Gluthitze, überall waren Blutlachen. Und Millionen Fliegen. Obwohl das Camp Warehouse in Sichtweite war, hat niemand auf die Funksprüche reagiert. Erst eine Truppe der Luftwaffe, die zufällig vorbeifuhr, hat uns geholfen. Später habe ich erfahren, dass die Soldaten aus Sicherheitsgründen das Camp nicht verlassen durften. Mir waren die Regeln in dem Moment egal. Es ging ja um Menschenleben. Aber das Camp hat uns erst mal im Stich gelassen.

Wurden Sie selbst verletzt?

Der Fahrer des hinteren Jeeps und ich waren die Einzigen, die nicht verletzt waren. Jedenfalls äußerlich. Als ich zurück war im Camp und mich im Stab gemeldet habe, bin ich weinend zusammengebrochen. Man hat meine Waffen entladen und mir einen Begleiter an die Seite gestellt, damit ich mir nichts antue. War wohl auch gut so. Der hat mir eine neue Uniform gegeben, die alte war ja getränkt vom Blut, und genauso habe ich gestunken. Er hat mich sogar unter die Dusche begleitet und mir Zigaretten angezündet. Ich bin zum Kettenraucher geworden. In der Nacht konnte ich nicht schlafen. Eigentlich habe ich seitdem nie wieder richtig geschlafen. Am nächsten Morgen bin ich wieder raus. Ich habe gedacht, wenn ich das nicht mache, verlasse ich das Lager nie mehr.

Wie lange waren Sie noch vor Ort?

Fast zwei Monate. Bis ich gemerkt habe, dass ich komisch wurde. Jedes Mal, wenn ein gelbes Auto in die Nähe kam oder einer versucht hat, uns zu überholen, habe ich die Waffe rausgehalten. Meine Nerven lagen blank. Und irgendwann hat einer gesagt, Hämmerle, das hat keinen Wert mehr.

Wurde es zu Hause besser?

Nein, es fing erst richtig an. Weil die Albträume immer stärker wurden, ging ich in psychiatrische Behandlung. In die Bundeswehrkrankenhäuser nach Ulm, Hamburg, in die Fachklinik in Bad Pyrmont und in die Reha am Bodensee. Alle Ärzte waren sich einig: Ich leide an einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Und auf beiden Ohren habe ich Tinnitus von der Detonation. Die Gesprächstherapien haben mir nicht weitergeholfen. Einmal dachte ich kurz, jetzt ist es verheilt. Aber ein paar Tage später kam es wieder. Und seitdem wird es immer schlimmer.

Wie leben Sie heute mit der PTBS?

Ich würde eher sagen, ich überlebe. Ich schlafe nur mit Tabletten ein und wache nur mit Tabletten wieder auf. Nachts fange ich an zu zittern. Damit ich das Pfeifen im Ohr nicht höre, lasse ich nachts das Radio an. Meine Freundin hat sich schon daran gewähnt. Wenn ich mit ihr oder meiner Tochter zusammen bin, komme ich zur Ruhe. Tagsüber habe ich Flashbacks, bei denen die Bilder wieder auftauchen. Vom Kameraden ohne Kopf, von den Fliegen. Den Blutgeruch habe ich immer in der Nase. Ich hab mir schon Tigerbalsam unter die Nase gerieben. Aber das hilft nicht. 2004 wurde ein Gehirntumor festgestellt. Der wurde schon ein paarmal entfernt, aber er kam immer wieder. Weil ich als Reservist nur eine kleine Rente bekomme, stehe ich vor dem finanziellen Ruin. Ich wurde beim Einsatz dienstunfähig, also kämpfe ich darum, wie ein aktiver Feldwebel bezahlt zu werden. Im November muss ich wieder nach Hamburg ins Bundeswehrkrankenhaus. Ich soll mal wieder untersucht werden, ob ich wirklich PTBS habe. Ich werde von einer Dienststelle an die nächste weitergereicht.

Was sagen Sie zu den Bildern aus Afghanistan, die Soldaten der Bundeswehr beim Spielen mit einem Totenkopf zeigen?

Ich habe sie nicht gesehen, und ich will sie auch nicht sehen.

Warum nicht?

Ich schaue mir keine Bilder aus Afghanistan oder anderen Kriegsgebieten mehr an. Wird im Fernsehen darüber berichtet, schalte ich ab. Die Bilder habe ich auch so im Kopf. Aber ich kann verstehen, dass Soldaten mal die Nerven durchgehen, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Als ich in Afghanistan war, ist ein niederländischer Jeep auf eine Mine gefahren. Dem Beifahrer hat es beide Beine zersplittert. Ich habe die Gesichter der Kameraden gesehen, die dabei waren. Denen hätte sich an diesem Tag keiner in den Weg stellen dürfen.

Stellt die Bundeswehr vor Ort Psychologen?

Ja, aber das bringt nicht viel. Was passiert ist, ist passiert. Das kriegt man nicht mehr aus dem Kopf raus. Da kann die Bundeswehr die Leute vorher durchchecken, soviel sie will. So ist Krieg. Auch wenn man auf einer Friedensmission ist.