Napoleon erobert die Berliner

Vor 200 Jahren marschiert der französische Kaiser durchs Brandenburger Tor und besetzt Berlin. Das Volk staunt über die „Soldaten ohne Perücke“. Doch die erhoffte Republik bekommt es nicht

VON UWE RADA

Es war „das schönste Wetter von der Welt“, erinnert sich ein Zeitgenosse noch Jahre später. Eine Kulisse, wie geschaffen für einen Triumphzug. Am Nachmittag des 27. Oktober 1806 zieht Napoleon Bonaparte durchs Brandenburger Tor – und besiegelt vorerst das Ende Preußens als europäische Großmacht. Was nun beginnt, ist Besatzungsalltag.

Dass sich die zwei Jahre der napoleonischen Besatzung tief ins Gedächtnis der Berliner gegraben haben, hat nicht nur mit der vorauseilenden Flucht von Preußens König Friedrich Wilhelm III. zu tun. Schon Tage vor dem Einmarsch hatte der sich mit der beliebten Königin Luise erst nach Küstrin und von dort nach Königsberg abgesetzt. Seinen Untertanen hat er nur die Botschaft hinterlassen: „Der König hat eine Bataille verloren. Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht.“

In Erinnerung blieb den Berlinern auch der Raub der Quadriga. Die hatten die Franzosen vom erst 15 Jahre alten Brandenburger Tor geholt, in 12 Kisten gepackt und kurzerhand nach Frankreich verschifft. Namentlich den Berliner Karikaturisten gilt Napoleon seitdem als „Pferdedieb“.

Der aber weiß geschickt die Berliner für sich zu gewinnen. Sein erster Gang nach dem durchs Brandenburger Tor führt Napoleon zwar ins Berliner Stadtschloss, wo der Magistrat zum Rapport – und seiner Entmachtung – anzutreten hat. Vor dem Einmarsch in Berlin aber war Napoleon schon am Grab von Friedrich dem Großen in der Gruft der Potsdamer Garnisonskirche gewesen. Legendär seine Worte: „Wenn der noch gelebt hätte, wäre ich nicht hier.“

Nun ist er aber hier, und die Hauptstadt der Preußen gewöhnt sich an den Besatzer aus Frankreich. In den Wirtshäusern fließt der Alkohol in Strömen, draußen staunt das Volk über die französischen Soldaten, „die keine Perücken besaßen und – auf der Straße – Tabak rauchten“. Nur die Wirtschaft liegt am Boden, wie das neu eingesetzte Comité administratif feststellt: „Il n’y a plus ni commerce ni industrie“. Weder Handel noch Instustrie, das führt dazu, dass die Franzosen bald ein „peuple absolument ruiné“ verwalten.

Dass die Tribute an die Siegermacht und die Unterbringung der französischen Soldaten das ihre fordern – geschenkt. Am Ende der Besatzung steht Berlin mit einem Schuldenberg von umgerechnet 105 Millionen Euro da. Mit der Abzahlung hat der Magistrat bis 1861 zu tun.

Doch es kommt noch schlimmer. Als es zwischen Frankreich und Russland 1807 überraschend zum Frieden von Tilsit kommt, bedienen sich beide Großmächte an Preußen, das fast die Hälfte seines Staatsgebiets verliert. Die westelbischen Gebiete gehen als Königreich Westfalen an Napoleons Bruder Jérôme. Warschau wird zum Großherzogtum Polen und gehört fortan zur sächsischen Krone. Auf die Bitte von Königin Luise um eine Milderung der Lasten reagiert Napoleon mit einem zynischen „On verra“ – „Wir werden sehen“. Preußen ist am Ende.

Und sein König bleibt in Königsberg. Selbst als die französischen Truppen am 3. Dezember 1808 aus Berlin abrücken, zieht Friedrich Wilhelm III. das ostpreußische Exil der Hauptstadt vor – und macht indirekt den Weg frei für die Reformer um Karl Freiherr vom Stein und Karl August von Hardenberg. Plötzlich geht alles schnell: Bauernbefreiung, Gewerbefreiheit, Gleichstellung von Bürgern und Adel. Die kommunale Selbstverwaltung bringt Berlin die erste Stadtverordnetenversammlung. Sie konstituiert sich am 6. Juli 1809 in der Nikolaikirche.

Vor allem aber gründet Wilhelm von Humboldt, der es als Reformer zum Kultusminister bringt, 1810 die Berliner Universität. Sein Leitspruch ist bis heute aktuell: „Preußen muss durch geistige Kräfte ersetzen, was es an physischen verloren hat.“

Über alldem, meint der 1999 verstorbene Preußenkenner Sebastian Haffner, solle man aber nicht vergessen, dass der Feudalismus in Preußen zählebiger war als in Frankreich: „In Preußen war er noch vollkommen robust und lebensfähig und brauchte sich nicht einmal besonders anzustrengen, um die Reformpläne der Hauptstadt als Geschwätz abzutun.“

So bleibt es bei den Stein-Hardenberg’schen „Reformen von oben“. Zur Republik wird Preußen nicht. Wohl aber wieder zur Großmacht. Als nach der Niederlage Napoleons in Russland, den Befreiungskriegen und dem Einmarsch der Alliierten in Paris Europas Ordnung auf dem Wiener Kongress 1815 neu ausgehandelt wird, ist Preußen wieder obenauf. Und bekommt – Ironie der Geschichte – als Zugabe das zuvor französische Rheinland.

Die vom „Pferdedieb“ geraubte Quadriga ist schon ein Jahr vorher wieder zurückgekehrt.