Der den Mund nicht halten wollte

BUCH Dokumentarfilmer Thomas Heise hat ein Buch geschrieben: „Spuren. Eine Archäologie der realen Existenz“. Er stellt es in der Akademie der Künste vor

Heise dringt dorthin vor, wo sich geschichtliche Ereignisse in Biografien hineinfräsen

Im August 1981 setzte die Stasi drei Informelle Mitarbeiter und eine Kontaktperson auf Thomas Heise an. Heise, gerade 26 Jahre alt geworden, studierte damals an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam (HFF); er bereitete seinen Diplomfilm vor. Drei Projekte hatte er schon fallen lassen müssen, eines über vorbestrafte Jugendliche in Prenzlauer Berg, ein zweites über einen Jugendlichen und eine Kellnerin in Frankfurt (Oder), denen asoziales Verhalten nachgesagt wurde, ein weiteres mit dem Arbeitstitel „Pioniergeburtstag“.

Heise, kommentierte die Stasi, lasse eine „ ‚Doppelbödigkeit‘ in politischen Aussagen“ erkennen. Ziel des operativen Vorgangs waren unter anderem die „vorbeugende Verhinderung staatsfeindlicher Hetze“ sowie die „Erarbeitung von Beweisen für subversive Tätigkeit des Verdächtigen“. Im Rahmen dieses operativen Vorgangs bekam der Student eine letzte Chance, seinen Diplomfilm zu drehen: „Das Projekt ‚Erfinder 82‘ ist geeignet, ein klares politisches Bekenntnis des H. zur DDR zu zeigen.“

Thomas Heise drehte „Erfinder 82“, verzichtete dabei aber offenkundig auf das gewünschte Bekenntnis zur DDR. Defa und HFF nahmen den Rohschnitt nicht ab, das Negativ wurde vom Defa-Studio für Dokumentarfilme vernichtet, Heise brach das Studium ab, schrieb und inszenierte ein Hörspiel, arbeitete am Theater mit Heiner Müller, realisierte mehrere weitere Dokumentarfilme, die allerdings nicht für öffentliche Vorführungen freigegeben wurden.

Nachzulesen sind die Stasi-Unterlagen aus dem Sommer 1981 in dem Buch „Spuren. Eine Archäologie der realen Existenz“, das Heise am Sonntag in der Akademie der Künste vorstellt. Es enthält Filmskripte, Selbstauskünfte, Geprächsprotokolle, Filmstills, Faksimiles von amtlichen Schreiben und Werkstattgespräche und führt tief hinein in das Oeuvre des Filmemachers.

In seinen geduldigen, vorurteilsfreien Dokumentationen (unter anderem „Stau – Jetzt geht’s los“, 1992, „Neustadt Stau – Stand der Dinge“, 2000, und „Kinder. Wie die Zeit vergeht“, 2007) dringt Heise immer dorthin vor, wo sich geschichtliche Ereignisse und politische Entwicklungen in individuelle Biografien hineinfräsen. Sein Interesse gilt dabei denjenigen, die sich nicht oder nur mit Mühe arrangieren. Einer seiner frühesten Filme handelt von einem kleinkriminellen Brüderpaar in Prenzlauer Berg. Der Titel – „Wozu denn über diese Leute einen Film“ – zitiert den Ausspruch eines HFF-Dozenten, nachdem ihm das Sujet vorgestellt worden war. Heises Filmografie ist ein trotziges „Darum!“ – ganz gleich, ob er unter jungen Rechten in Halle-Neustadt oder unter Bewohnern des sachsen-anhaltinischen Dorfes Straguth dreht.

Dass Heises Perspektive in der DDR Missfallen hervorrief, erstaunt nicht. Man sollte deshalb aber nicht glauben, seit der Wiedervereinigung hätten sich seine Kämpfe erledigt. Als er an „Kinder. Wie die Zeit vergeht“ (2007) arbeitete, war der MDR nicht zufrieden. Das Fernsehen wollte einen Film darüber, was die jungen Rechten aus „Stau“ 15 Jahre später machen. Heise aber fragte: „Wie sieht die Normalität aus, und was schlummert unter der Decke, erschöpft von den Konflikten des Alltags?“ Durchgesetzt hat er sich doch. CRISTINA NORD

■ Thomas Heise: „Spuren. Eine Archäologie der realen Existenz“. Vorwerk 8, Berlin 2010, 498 Seiten, zahlr. S/W-Abb., 24 Euro

■ Buchpräsentation mit Filmbeispielen am 14. 11. um 17 Uhr, Akademie der Künste, Pariser Platz