„Reiche sollen mehr bezahlen“

Peter Grottian

„Nicht die Glitzermetropole, sondern die Mischungvon Menschen mit unterschiedlichsten Arbeits- und Lebensentwürfen ist das Faszinierende an Berlin. Genau das soll nach dem Karlsruher Diktat nun zerstört werden“„Berlin könnte ein Schuldenmoratorium aushandelnund so von den Gläubigern eine Atempausebei den Zinszahlungen bekommen, damit die Luftfür das politische Gestalten nicht abgedrückt wird“

Der Politologe ist ein Markenzeichen. Der Professor an der Freien Universität nennt sich Bewegungsunternehmer. Er mahnt soziale Gerechtigkeit an. Öffentlich und durch Opposition von unten – erst recht nach dem Urteil des Verfassungsgerichts, das Berlin Entschuldungshilfe verweigert. Er ist engagiert im „Aktionsbündnis Sozialproteste“ und bei der „Kampagne gegen Zwangsumzüge“. Er gehört zur „Initiative Berliner Bankenskandal“. Und mit einem Gleichgesinnten hat der 64-Jährige durch Verzicht auf volles Gehalt eine Teilzeitprofessur für eine Gender-Politologin geschaffen

Interview Waltraud Schwab

taz: Herr Grottian, wie viel Grottian braucht Berlin, um in den nächsten zehn Jahren nicht unterzugehen?

Peter Grottian: Es braucht viele Menschen, die in provozierender Form eine andere Politik herausfordern. Menschen, die begriffen haben, dass die Lösungskompetenz von Parteien, Gewerkschaften, Verwaltungen nicht ausreicht, um Politik fair und sozial zu gestalten.

Das Grottianische ist also die außerparlamentarische Opposition?

In meinem Gesellschaftsverständnis bedarf es außerparlamentarischer Bewegungen. Ihr Protest muss das permanente Korrektiv der Politik sein.

Was soll anders werden?

Die Wahnsinns-Ökonomisierung unserer Gesellschaften schließt bestimmte Menschen von gesellschaftlicher Teilhabe aus und diskriminiert sie. Das bedroht die Demokratie. Durch politische Auseinandersetzung und Protest muss deutlich werden, dass andere Lösungen für Arbeitslosigkeit, für Sozialstaat, für gesellschaftliche Spaltungsprozesse in Arm und Reich möglich sind.

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, Berlin keine Bundeshilfen zu gewähren, um seine 60 Milliarden Schulden zu verringern. Nun ist die Stadt nun mit dem ökonomischen GAU konfrontiert. Ist Ihre Kritik darauf anwendbar?

Was das Bundesverfassungsgericht verhängt hat, ist im Grunde ein neoliberales Programm für eine Großstadt wie Berlin. Die Richter haben klipp und klar gesagt: Öffentliches Eigentum kann man vergessen. Ihnen ist relativ gleichgültig, wie Sozialprobleme gelöst werden. Sie schrecken nicht davor zurück, Bildungsausgaben zu kürzen, und auch nicht davor, an der Kultur und ihrer Förderung den Rotstift anzusetzen.

Das klingt nach düsteren Visionen.

Man hat den Eindruck, es geht nur um eine Stadtpolitik, die die ökonomisch Mächtigen schützt, das Gemeinwesen aber dem Ausverkauf überantwortet. Es führt dazu, dass Berlin in zehn oder 15 Jahren ohne inneren Zusammenhalt ist: Da die Sicherheitsbereiche der Reichen, dort die sozialen Ghettos. Es wird eine Stadt sein, die weder für die Wohlhabenden noch für die Diskriminierten lebenswert ist. Auch als Tourismusattraktion – und Tourismus ist eine Entwicklungsdynamik der Stadt – wird Berlin dann nicht mehr taugen. Denn nicht die Glitzermetropole, sondern die Mischung von Menschen mit unterschiedlichsten Arbeits- und Lebensentwürfen ist das eigentlich Faszinierende an Berlin. Genau das soll nach dem Karlsruher Diktat nun zerstört werden.

Das Gericht hat gesagt, wie die Politik handeln muss. Können die Politiker das hinnehmen?

Nein. Spannend wird, ob man jetzt eine Diskussion darüber wagt, dass man sich diesem Diktat verweigern muss. Werden die Politiker sagen: Stadtpolitik funktioniert nicht, indem man alles privatisiert? Das schließt ja nicht aus, dass man bei den Ausgaben auch spart. Werden die Politiker in die Offensive gehen?

Wie sollen sie das tun?

Indem sie klar machen, dass sie nicht nur ein Ausgabenproblem, sondern auch ein Einnahmenproblem haben. Da ist Fantasie gefordert. Neue Einnahmequellen müssen geschaffen werden.

Haben Sie schon Ideen? Man sagt Ihnen ja nicht umsonst nach, vom Verstand her ein Pessimist zu sein, vom Denken her aber ein Optimist.

Erst mal bin ich dafür, nicht einäugig das Karlsruher Urteil zu vollziehen, sondern sich zu fragen: Müssen wird das wirklich? Kommt man zu einem Nein, muss man den Mut haben, dem Urteil nicht zu folgen. Dann muss man überlegen, wie Berlin anders aus der Schuldenfalle rauskommt. Man könnte etwa ein Schuldenmoratorium aushandeln und so von den Gläubigern eine Atempause bei den Zinszahlungen bekommen, damit die Luft für das politische Gestalten nicht abgedrückt wird. Man muss auch darauf pochen, dass die Menschen selbst darüber entscheiden, was gekürzt wird. Zudem muss man entscheiden, ob es beispielsweise eine existenzielle Notlagensteuer geben muss und ob man Leute in der Stadt, die wohlbetucht sind, schärfer belastet, damit das Gemeinwesen nicht auseinanderdriftet.

Die Reichen sollen zahlen?

Jedenfalls erheblich mehr als bisher. Es gibt durchaus etwa 800.000 Menschen in Berlin, die auf der Sonnenseite leben. Ich bin mir sicher, dass ein Vorschlag, der die Reichen finanziell stärker belastet, in hohem Maße mehrheitsfähig ist. Die Menschen haben ein Gespür dafür, wo Macht und Geld falsch und ungerecht verteilt ist. Dabei geht es nicht um Neid. Die Neiddebatte ist eine Schutzdebatte derer, die nichts abgeben wollen.

Und Sie glauben, dass es die Bereitschaft bei den Wohlhabenden gibt, diese Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen?

Nur dann, wenn sie begreifen, dass die tollen Möglichkeiten Berlins durch die Spaltungsprozesse in Arm und Reich beeinträchtigt sind. Die Reichen müssen die, die nicht profitieren, in ihr Denken einbeziehen. Das werden sie kaum freiwillig tun. Es bedarf schon des Drucks, diese Alternativen überhaupt zu diskutieren. Und es bedarf der Armutsproteste in vielfältiger Form, um den Wohlhabenden klar zu machen, dass Gesellschaft für viele Gruppen, nicht nur für wenige, lebbar sein muss.

Lumpendemos in der Reichtumszone – Sie glauben, da steckt ein Lerneffekt drin?

Wenn man vor einer schwedischen oder amerikanischen Botschaft einen Armutsprotest organisiert nach dem Prinzip: „Auch das ist Deutschland“, dann möchte ich doch mal sehen, was im Kanzleramt passiert und was das für die internationale Reputationsfähigkeit der Republik bedeutet.

Wie viel Träumer steckt in Grottian, um sich so etwas vorzustellen?

Im Moment ist das sicherlich noch schwierig, weil sich wenig Leute öffentlich wehren und es den Sozialprotesten an Kraft fehlt, die unterschiedlichen Protestformen auch zu praktizieren.

Die Leute, die auf die Barrikaden gehen müssten, sind schwer zu erreichen. Deren Informationsquellen sind das Privatfernsehen und die Springer-Presse. Dass die zur Verdummung beitragen, steht neuerdings ganz öffentlich sogar in der FAZ.

Sie verdummen sie erfolgreich. Wir vom Aktionsbündnis Sozialproteste haben im Grunde genommen keine Mittel gefunden, diese Menschen für unsere Aktivitäten empfänglich zu machen. Wir sind mit dem, wie wir es machen, nicht attraktiv, weil wir die persönliche Seite der Menschen nicht einbeziehen. Vielmehr denken wir, durch unseren politisch-strategischen Debatten so überzeugend zu sein, dass die Menschen automatisch kommen. Das ist eine große Fehleinschätzung. Das Persönliche und das Beratende, das Kommunizierende und das Lernende kommen viel zu kurz. Aber darin liegt der Schlüssel, um Menschen zu gewinnen, um sie gesellschaftspolitisch urteilsfähig zu machen, damit sie sich dann vielleicht auch in Bewegung setzen.

Das ist jetzt Selbstkritik. Was ist mit dem anderen Grottian’schen Imperativ – dem, einen Ist-Zustand vom Gegenteil her zu denken?

Wenn man an der gesellschaftlichen Realität leidet, kann man nur Kraft entwickeln, wenn man sich traut, sich eine andere Gesellschaft positiv vorzustellen. Egal, ob es die Frage ist, wie der Sozialstaat besser geregelt werden soll oder wie eine Gesellschaft mit Grundeinkommen leben könnte. Wie die Arbeitsteilung der Geschlechter besser aussehen könnte oder wie diejenigen, die die Menschen verdummen und sie in ihrer Selbstorganisationsfähigkeit behindern, zur Verantwortung gezogen werden. Die Ideen dazu sind ein Motor, um nicht zu resignieren.

Sie sind Professor an der Freien Universität. Warum leiden Sie an der gesellschaftlichen Realität?

Ich leide an der Universität ja auch. Etwa darunter, dass jungen Menschen Mini- Studiengänge angeboten werden, die wertlos sind. Pizzas backen wäre lohnender. Es ist ein Verbrechen, dass man ein zerhacktes Bildungssystem auf Studierende so runterbricht, dass man sie als Mini-Agenten ohne wissenschaftliche Urteilsfähigkeit und Berufspraxis in den Arbeitsmarkt entlässt.

Sie leiden offenbar an allem – an der Gesellschaft, der Uni, der Geschlechterdifferenz – das hat doch was mit Ihnen zu tun. Sind Sie ein Leider?

Ein Leider? Ja, da ist was dran. Ein Leider, aber auch ein Volontarist und Utopist. Als Utopist mache ich den Versuch, alternative Vorstellungen von Arbeit, von Stadt, von Gesellschaft, von Sozialstaat zu denken. Als Volontarist nehme ich in Kauf, dabei zwischen die Stühle zu geraten. Nicht ohne trotzdem Leute für meine Ideen zu begeistern.

In den letzten 30 Jahren sind Sie auf diese Weise tätig und nicht ganz erfolglos. Dass der 1. Mai in Kreuzberg heute mehr Fest und weniger Krawall ist, dazu haben Sie den Anstoß gegeben.

Der 1. Mai ist ein gutes Beispiel. Mit unseren Positionen – Repolitisierung und strikte Polizeiabsenz – waren wir gar nicht so erfolgreich. Aber es zeigt, dass auch ein Scheitern Auseinandersetzungsprozesse auslöst. In Kreuzberg haben die Bewohner die Politik durch ein Fest ersetzt. Aber es geht nicht immer nur darum, etwas durchzusetzen. Sondern darum, dass Leute möglichst massenhaft etwas lernen. Sie können lernen, dass Angst vor zivilem Ungehorsam nicht nötig ist. Sie können begreifen, dass sie politische Akteure sind.

Sie haben das Scheitern soeben schöngeredet. Fühlen Sie sich auf der Verliererseite wohl?

Nein.

Trotzdem machen Sie schon 30 Jahre lang den Bewegungsunternehmer und beginnen dabei immer wieder von vorne. Wie hält man das aus?

Das frag ich mich auch. Es ist eine andere Art von Lehre, als am Schreibtisch zu sitzen und Bücher zu schreiben, wenn man mit Erwerbslosen versucht Sozialproteste zu organisieren

Und wie gehen Sie damit um, dass manche schon abwinken beim Namen Grottian?

Das hat ganz unterschiedliche Gründe. Eine öffentliche Person wie ich, die versucht, sich in der Bewegung und an der Hochschule so zu engagieren, ist automatisch dem Misstrauen ausgesetzt. Das finde ich auch natürlich. Ich bin kein normaler Hartz-IV-Widerständler. Ich kann die Betroffenheit bei Erwerbslosenprotesten nicht repräsentieren.

Gegen Windmühlen ankämpfen, Misstrauen erleben, Scheitern – das stecken Sie alles so leicht weg?

Ich stecke das nicht weg; es scheint so.

Weinen Sie manchmal?

Selten, aber es kommt vor. Es gibt bei mir oft Tage, wo ich mich als 64-Jähriger frage: Warum musst du dir das noch antun? Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, als Hochschullehrer und Bewegungsunternehmer a. D. alles nur noch aus der Zeitung zu erfahren.

Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht leiden?

Ich leide ja immer. Aber leiden heißt für mich, etwas zu machen. Es mit Perspektiven, manchmal sogar spaßvollen, zu versehen, damit ich etwas weniger leide.