berliner szenen Trinken mit Ärzten

Keiner da bei 112

In der 7cl Bar gleitet ein Mann an den staksigen, silbernen Beinen meines Barhockers entlang nach unten. Eine Frau fühlt seinen Puls. Notfall! Ich ziehe mein Handy hervor und wählte die 112. Einfach, weil ich sonst nichts kann, nicht mal die stabile Seitenlage. Aber es gibt Leute, die können noch weniger. Neulich lag am frühen Morgen ein zauseliger, bewusstloser Mann vor dem Supermarkt. Neben ihm eine gut gestylte Kundin, die mich ratlos fragte, ob sie 110 oder 112 wählen müsse.

In der Bar gibt die Frau inzwischen Anweisung, die Beine des Umgefallenen hochzulegen. Bei 112 nimmt niemand ab. Oh, mein Anruf sei nett, aber die Frau, die sich um den liegenden Mann kümmere, sei Ärztin, klärt mich ein Gast auf. Seltsam. Erst vor kurzem wunderte sich noch ein Freund, dass Leute, von denen man dachte, sie würden seit acht Jahren nichts tun außer trinken und schlafen, sich urplötzlich als Doktor der Neuropsychiatrie vorstellen. Ist die Bar meines Vertrauens die heimliche Feierabendlounge der Charité? Oder einfach ein Sammelbecken für Menschenfreunde? Es sollen dort ja auch schon Erstkiffer in ihrem Kreislaufdelirium von schwarz gekleideten Grafikern aufgefangen und auf sanften Händen hinausgetragen worden sein.

Das Letzte, was mir von meinem versuchten Notruf in Erinnerung bleibt, ist die Weiterschaltung in eine Wartehotline. Ich möchte lieber nicht wissen, mit welchem Spruch man dort motiviert werden soll, in der Leitung zu bleiben. Muss man sich durch gezieltes Tastendrücken zum passenden Mitarbeiter vorarbeiten? „Wenn Sie ein Feuer melden wollen, drücken Sie bitte die 1, bei einem Unfall bitte die 2. Danke, geben Sie nun die Anzahl der Verletzten ein … tüt, tüt.“

KATHARINA HEIN