Öffentliches Staatsgeheimnis

Da der Antisemitismus nicht tief verwurzelt war, wollte das NS-Regime die Deutschen zu Mitwissern des Völkermords machen. Das zeigt Peter Longerich in seiner großartigen Studie

VON DANIEL KOERFER

Natürlich haben viele Deutsche davon gewusst. „Die prinzipielle Öffentlichkeit der Judenverfolgung gilt nicht nur für die Vorkriegszeit, sondern auch für die Phase der Deportationen und Massenmorde in den Jahren 1941 bis 1943, in denen zwar die präzisen Einzelheiten des Mordprogramms als Staatsgeheimnis behandelt wurden, das Regime sich zugleich aber öffentlich dazu bekannte, dass es dabei war, eine radikale, eine finale ‚Lösung der Judenfrage‘ zu betreiben“, schreibt Peter Longerich nicht von ungefähr in seinem Buch.

Ihm geht es in seiner umfangreichen Studie darum, dem Kenntnisstand der Zeitgenossen über die Judenverfolgung nachzuspüren. Als Quellen zieht er fast nur heran, was im Dritten Reich unmittelbar entstand, verfasst und verordnet wurde – eine stupende Fülle an Material. Es reicht von zahlreichen Tagebucheintragungen über die in sowjetischen Archiven aufgefundenen Protokolle der Reichs-Propagandakonferenzen bis zu den Berichten der 42 Gaupropagandaämter. Zudem hat Longerich Presseanweisungen des Propagandaministeriums erfasst, ebenso die Stimmungs- und Lageberichte von SD und Gestapo sowie die Deutschlandberichte der Sopade, der Exil-SPD. Schließlich hat er mehr oder minder kontinuierlich 24 Zeitungen ausgewertet.

Natürlich, Öffentlichkeit in unserem heutigen Sinne, Meinungsvielfalt und offene Diskurse gab es im Dritten Reich nicht. Longerich weiß um das Problem. Ein Großteil der Quellen stammt von Anhängern des Regimes, gibt deren Perspektive und Interessen wieder, ist nationalsozialistisch aufgeladen, „infiziert“ von Rassenwahn und -hass. Daraus lassen sich nur mit Vorsicht fundierte Aussagen über die Haltung der Bevölkerung herausdestillieren. Allerdings geht es ohnehin nicht allein um deutsche Mentalitätsgeschichte.

Sorgfältig beschreibt Longerich noch etwas anderes: das Bemühen des NS-Regimes, die zunehmend gleichgeschaltete Öffentlichkeit auch im Bereich der „Judenpolitik“ auf Linie zu bringen, die Bevölkerung zu einem aggressiv ausgrenzenden Verhalten, zum „Hass auf Juden“ anzustacheln. Und er beschreibt das Scheitern dieser massiven Indoktrinationsversuche. Es ist also kein Wunder, das Daniel Goldhagen für diese Studie nur Verachtung übrig hatte, denn von einem verbreiteten, in der deutschen Gesellschaft tief verwurzeltem „eliminatorischen Antisemitismus“ findet sich nichts bei Longerich.

Seine Darstellung ist differenzierter. Gewiss gab es schon lange vor 1933 einen verbreiteten, latenten Antisemitismus. Gewiss gab es so etwas wie eine verbreitete Grundhaltung nach 1933, es wäre eigentlich ganz gut, könne man „die Juden aus Deutschland loswerden“. Aber, wie Longerich zu Recht betont, der Antisemitismus war keinesfalls durchweg und immer das propagandistisch beherrschende Thema im Dritten Reich. Waren bis 1934 in der bürgerlichen Presse, etwa der Frankfurter Zeitung, noch kritische Stimmen gegenüber einer Politik der Segregation möglich gewesen, ist dies 1938 absolut unmöglich geworden. Längst steuerte das Propagandaministerium die groß angelegten antisemitischen Kampagnen über die Parteipresse hinaus, setzte antisemitische Sprachregelungen durch.

Andererseits heißt es in einer ganzen Reihe der zitierten Sopade-Berichte: „Die Bevölkerung ist im Grunde nicht – zumindest nicht aktiv – antisemitisch“ (hier 1937). Die Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Kontakte zu Juden wurde häufig mit der auf den ersten Blick harmlosen Begründung versehen, „um Geld zu sparen“ – für Longerich eine Art, sich den verordneten Verhaltensnormen subtil zu widersetzen.

Der Sprecher des Propagandaministeriums stellte denn auch Ende November 1938 angesichts der spürbaren Bedrückung in der Bevölkerung nach der „Reichskristallnacht“ fest: „Man wisse, dass der Antisemitismus sich heute in Deutschland immer noch zu einem wesentlichen Teil auf die Partei und ihre Gliederungen beschränkt.“ Konsequent kündigte er eine neuerliche antisemitische „Aufklärungskampagne“ an.

Angesichts der inzwischen völlig entrechteten, isolierten und verarmten deutschen Juden – mehr als die Hälfte der 1933 noch rund 500.000 deutschen Juden hatte damals das Land schon verlassen – verschob sich der Fokus des NS-Regimes nach Kriegsbeginn 1939 auf die „internationale Judenfrage“. Nicht Hitler habe diesen Krieg begonnen, er sei den Deutschen vom „internationalen Judentum“ aufgezwungen worden, lautete jetzt die Propagandaformel.

Im Spätsommer 1941, mit dem Überfall auf die Sowjetunion, beginnt die letzte dramatische Verschärfung des nationalsozialistischen Rassenwahns – und die Propaganda soll die Bevölkerung einstimmen auf diese finale Phase von Deportation und Tod der europäischen Juden und anderer Minderheiten. Goebbels setzt im September 1941 bei Hitler die Kennzeichnung der Juden „als Miesmacher und Stimmungsverderber“ mit dem gelben Stern durch – und registriert am 23. 9. 1941 empört Mitleidsäußerungen aus dem Bürgertum: „Der deutsche Bildungsspießer ist schon ein Dreckstück.“

Während die vier Einsatzgruppen hinter den Linien Hunderttausende erschießen, die ersten Vernichtungslager entstehen, radikalisiert sich auch die Sprache von Regime und Propaganda. Bereits im Oktober 1941 heißt es in den Münchner Neuesten Nachrichten, im Osten werde „das Judenproblem liquidiert“. Nicht mehr von „Vernichtung“ der Juden, sondern von ihrer „Ausrottung“ ist jetzt zunehmend und vielfach die Rede, Hitler verwendet den Begriff erstmals im Februar 1942, und der Völkische Beobachter titelt unverhüllt: „Der Jude wird ausgerottet werden“.

Das Ziel des Regimes mit diesen zahlreichen Andeutungen und Hinweisen auf den Staatsmord – bei gleichzeitiger Tabuisierung der konkreten Schritte – war für Longerich klar. Es sollte der Bevölkerung signalisiert werden: „Vernichtet die Juden, um nicht von ihnen vernichtet zu werden.“ Die Menschen sollten zu Komplizen gemacht werden. Die Staatsmorde wurden zu einem „öffentlichen Geheimnis“.

Das Regime wusste aus den SD-Berichten, dass in der Bevölkerung durchaus Besorgnis über die Konsequenzen der NS-Judenpolitik sich breitmachte. Im August 1942 gibt die SD-Außenstelle Leipzig etwa folgende Stimmen weiter: „Die Judenfrage konnte Hitler auch anders lösen. Menschlicher! Kein Mensch hat das Recht, ein Volk ausrotten zu wollen. Gewiss haben die Juden uns viel geschadet, aber die hat man von 1933 bis 1941 abreisen lassen.“

Informationen über Massenexekutionen hatten die Soldaten in die Heimat gebracht; „relativ weit verbreitet“ waren auch, so Longerich, Gerüchte über die Ermordung von Juden mit Gas – selbst wenn sie als „Staatsgeheimnis“ in den SD-Berichten nie auftauchten. Die große Mehrheit der Bevölkerung befolgte im Übrigen die Anweisungen des Regimes, hielt Distanz zu den Verfolgten. Allerdings war das eine „vom Regime durch jahrelange Propaganda und Repression erzwungene Verhaltensweise im öffentlichen Raum, die wenig über die ‚wahre‘ Einstellung der Bevölkerung aussagt“, resümiert Longerich. Denn das Regime hatte bei seiner Judenpolitik ein „erhebliches Maß an Verständnislosigkeit, Skepsis und Kritik zu überwinden“, sah sich mit wachsendem Unwillen konfrontiert, je radikaler die Verfolgung wurde.

Die Anstrengungen der Propaganda zur Ausrichtung der Bevölkerung auf die „Endlösung“ gerieten 1942 zum regelrechten Fiasko. Depression machte sich breit. Die Kampagne musste 1943 abgebrochen werden, während die Massenvernichtungen weiterging. Zugleich nahm in der Bevölkerung die Tendenz zur Verdrängung dieses bitteren Themas zu, wuchs die Bereitschaft zur Flucht ins „Nicht-wissen-Wollen“, je näher die Niederlage heranrückte. In der zweiten Kriegshälfte begann mithin jene „Flucht in die Unwissenheit“, die nach dem Krieg in die berühmte Doppelformel mündete: „Davon haben wir nichts gewusst“ und „Das haben wir nicht gewollt!“

Peter Longerich: „ ‚Davon haben wir nichts gewusst!‘ Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933–1945“. Siedler Verlag, München 2006, 448 Seiten, 24,95 Euro