DIE WELT MUSS SICH FRAGEN: WAS FOLGT AUF DAS REGIME IN NORDKOREA?
: Pläne für den Tag danach

Der Atomtest des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Il hat die politische Ordnung in Ostasien erschüttert. Dabei hat die Detonation im nordkoreanischen Testgelände zunächst sogar so etwas wie einen kollateralen Nutzen gezeitigt. Denn schon die Aussicht auf den Atomtest ließ die beiden regionalen Rivalen China und Japan unerwartet eng zusammenrücken. Vereint im Zorn auf Kim Jong Il, schienen jahrzehntelange Streitigkeiten für einen Moment in den Hintergrund zu treten.

Aber auch das Verteidigungsbündnis zwischen Seoul und Washington, das in den letzten Jahren arg strapaziert schien, erstrahlt dank Kim Jong Il nun wieder in neuem Glanz. Südkoreas Verteidigungsminister verkündete diese Woche beinahe festlich, sein Land vertraue voll und ganz auf den atomaren Schutzschild der USA. Präsident George W. Bush wiederum bekräftigte persönlich den festen Willen Amerikas, Südkorea und Japan gegen eine Angriff aus dem kommunistischen Norden zu verteidigen: Ein Angriff auf Tokio oder Seoul käme einer Kriegserklärung an die USA gleich.

So unwahrscheinlich ein solcher Angriff derzeit auch ist, so wichtig sind diese rhetorischen Rituale, um ein atomares Wettrüsten abzuwenden. Denn sollten in Tokio oder Seoul nur die geringsten Zweifel an der Verlässlichkeit des amerikanischen Schutzschilds aufkommen, wäre eine atomare Kettenreaktion in Asien kaum aufzuhalten. In wenigen Monaten schon hätten Japan und Korea die Waffe aller Waffen gebaut: Es ist keine Frage des Könnens, nur des Wollens.

Aber hat Nordostasiens relativ stabile Ordnung bestand? Die USA drohen dem Regime in Pjöngjang mit allen Optionen, und damit auch der militärischen. 1994 beauftragte US-Präsident Bill Clinton das Pentagon, die Kosten eines militärischen Angriffs auf Nordkorea durchzurechnen. Das Ergebnis: Die USA und Südkorea würden Nordkorea zwar besiegen, doch sei dabei mit mehr als 3,5 Millionen Toten zu rechnen. Auch wenn die nordkoreanische Atombombe noch nicht ausgereift ist: Heute wären die Folgen einer kriegerischen Auseinandersetzung mit Sicherheit noch verheerender.

Sollte man Kim Jong Il, den Herrscher über ein hungerndes Volk und Führer einer der weltgrößten Armeen, daher also mit wirtschaftlicher Hilfe und Sicherheitsgarantien locken, wenn er dafür der Bombe abschwört? In den vergangenen zwölf Jahren sind mehrere Verhandlungsrunden mit dem Despoten gescheitert: Das Genfer Abkommen von 1994 scheiterte an der Dreistigkeit der Nordkoreaner, die versprachen, das Atomprogramm aufzugeben, aber doch im Geheimen weiterforschten. Der Deal scheiterte aber auch am Unwillen der Amerikaner, das Abkommen zügig umzusetzen. US-Politiker hofften auf einen Kollaps von Kim Jong Ils Schattenreich, was die Lieferung der zugesicherten Atomreaktoren für Nordkoreas zivile Energieversorgung erübrigt hätte.

Der zweite Versuch, die sogenannten Sechs-Parteien-Gespräche zwischen Nordkorea, Südkorea, Russland, China, Japan und den USA, ist seit einem Jahr blockiert. Über den Stand von unverbindlichen Grundsatzerklärungen kamen sie ohnehin nie hinaus. Nordkorea machte dafür die von den USA initiierten Finanzsanktionen verantwortlich. Allerdings sind Zweifel angebracht, ob Kim Jong Il überhaupt bereit ist, sein Abschreckungspotenzial aufzugeben.

Weitere Gespräche sind dennoch nicht sinnlos – auch ohne nordkoreanische Beteiligung. Denn Südkorea, Russland, China, Japan und USA sollten sich dringend darüber unterhalten, wie die Landkarte der Region nach Kim Jong Il aussehen könnte. Das heißt nicht, dass sie aktiv an einem Regimewechsel in Pjöngjang arbeiten sollten. Aber sie sollten nicht länger versuchen, das Ende eines brutalen Regimes mit beinahe allen Mitteln verhindern zu wollen. Das aber ist der Status quo: Südkorea schaudert es vor den Kosten der Wiedervereinigung: im Vergleich zu Nordkoreas Volkswirtschaft war die DDR ein Tigerstaat. Und Russland und China fürchten unkontrollierte Flüchtlingsströme sowie, als mögliche Folge einer Wiedervereinigung, vielleicht noch mehr die US-Armee an ihren Grenzen. China hält Nordkorea schon längst nicht mehr aus Liebe zum sozialistischen Bruderstaat die Treue: Peking will schlicht die Stabilität in der Region nicht gefährden. Der Wunsch nach „Stabilität“ ist nachvollziehbar, moralisch allerdings höchst fragwürdig. Denn an der Grenze zu Nordkorea unterdrückt Peking mit diesem Argument elementarste Menschenrechte: Greift die chinesische Polizei dort Flüchtlinge aus Kim Jong Ils Hungerstaat auf, werden sie mit Gewalt zurückverfrachtet. Auf „Republikflucht“ aber stehen in Nordkorea Folter, Arbeitslager oder Todesstrafe.

Ein Zusammenbruch des Regimes in Pjöngjang und eine Wiedervereinigung Koreas ist jedoch unausweichlich – nur ob in fünf Monaten oder 25 Jahren, das weiß niemand. Jetzt aber wäre der Zeitpunkt, darüber nachzudenken, wie der Weg dorthin begleitet werden könnte. MARCO KAUFFMANN