Die Reichen sollen zahlen

Das Verfassungsgericht urteilt am Donnerstag, ob der Bund das hochverschuldete Berlin unterstützen muss. Aber was passiert, wenn das Gericht der Hauptstadt die Milliarden verweigert? Eine Utopie

von Waltraud Schwab

Tagebuch vom 25. Oktober 2006: Es soll, habe ich heute gehört, im Senat Leute geben, die es gut finden, dass das Gericht in Karlsruhe Berlin keine Finanzhilfe des Bundes zugesprochen hat. Nun könne man endlich ans Eingemachte, sagen sie. Eine Universität schließen, Jugendämter, Bibliotheken, Schwimmbäder abwickeln, Wohnungsgesellschaften verkaufen, eine Oper privatisieren. Die soziale und kulturelle Infrastruktur zusammenstreichen nach Belieben. Das im Wahlkampf noch versprochene kostenlose Kita-Jahr ist bereits Makulatur. Durch das Urteil aus Karlsruhe sieht sich die rot-rote Koalition aus dem Schneider. Die Richter seien schuld. Sie gönnten den BerlinerInnen eben nicht mehr. So zumindest klingen die Sätze des Regierenden Bürgermeisters. Sie fangen derzeit an mit „Es führt kein Weg daran vorbei“.

6. Dezember 2006: Bei uns im Haus regnet es durchs Dach. Die Vermieter haben kein Geld, es zu reparieren. Sind Rentner. Kredit bekommen die nicht. „Verkaufen Sie doch“, wird ihnen geraten. Man habe Recherchen angestellt: Im Hinterhaus lebt die Hälfte der Mieter von Hartz IV. Die kriege man lässig raus, wenn man Eigentumswohnungen draus macht. „Die Miete deckt gerade mal die Nebenkosten“, stöhnt hingegen der Vermieter. „Und jetzt die Erhöhung der Müllabfuhr, der Strompreise, der Straßenreinigungsgebühr, des Wassers.“ Mit seinen 75 Jahren hat er sich aufs Dach gewagt und unabgesichert im Schneeregen Teerpappe verklebt. „Ich bin doch Berliner“, sagt er. „Ich bin doch die Stadt, nicht die aus die Banken und Aktiengesellschaften.“ Neulich ging eine Ratte in die Lebendfalle, die er neben den Mülltonnen aufgestellt hat. Eine Krähe attackierte das gefangene Tier. Es war ein wahnsinniger Lärm.

27. Mai 2007: Ich war auf dem 65. Geburtstag von Peter Grottian. Die Freunde des Politologen vom Sozialforum hatten eingeladen. Unverdrossen fordern sie eine Gerechtigkeit ein, die bei den hiesigen Politikern aus der Mode gekommen ist. Das „Korsett-Urteil“ aus Karlsruhe werde von den Politikern missbraucht, um die Armen in der Stadt zu diskreditieren, sagen sie. Als wären hunderttausende von Hartz-IV- Empfängern selbst schuld an ihrer Misere. Es war kein wirklich lustiges Fest. Von den eingeladenen Politikern kam keiner.

5. Juli 2007: Die BVG-Preise wurden um 50 Prozent erhöht. Das Urteil in Karlsruhe wolle es so, sagen die Senatoren. Sie werden immer dreister in ihrer Argumentation. „Die goldenen Zeiten sind vorbei“, hat Wowereit neulich vollmundig gemeint. Mit solchen Sätzen werden schon mal die Haushaltsberatungen nach den Sommerferien eingeleitet. Nur Heidi Knake-Werner guckt bekümmert. Der Sozialsenatorin nimmt man ab, dass sie die Probleme sieht: Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung, Obdachlosigkeit, zunehmende Gewalt gegen Frauen und Kinder, Vandalismus, Jugendgangs aller Couleur. Die NPD im Osten hat enormen Zulauf. Es ist den Bezirksverordnetenversammlungen, in denen die Nazis sitzen, nicht gelungen, sie zu entzaubern. Im Gegenteil: In Lichtenberg wurden schon wieder drei junge Männer fast zu Tode geprügelt. „Sie sahen nicht deutsch aus“, hat einer der Täter zu Protokoll gegeben. Es waren aber Deutsche.

11. Juni 2008: Regine hat versucht, sich umzubringen. Anfang des Jahres ist sie arbeitslos geworden. Der Zuschuss für ihr Projekt wurde gestrichen. Sie wollte nicht wieder auf Hartz IV. „Wo fängt das Ende an?“, hat sie in ihrem Abschiedsbrief geschrieben. Micha hat sie gefunden. Im Krankenhaus haben sie sie zurückgeholt. Ich verstehe nicht, warum sie nicht „Wann fängt das Ende an?“ geschrieben hat.

10. Oktober 2008: Die Nazis haben einen heißen Herbst versprochen. Mit der Parole „Wir zahlen die Schulden nicht“ machen sie Furore. Seit vier Wochen stehen sie täglich vor dem Roten Rathaus und fordern, dass der Senat die Schuldenzinsen nicht mehr begleiche. Es kommen immer mehr Leute zu den Demos. Selbst viele Studenten sollen darunter sein, seit durchgesickert ist, dass noch eine weitere Universität geschlossen werden soll. Wörter wie „Gebietskörperschaft“ kapieren sie nicht. Berlin kann nämlich seine Schulden gar nicht nicht bezahlen. Denn dann haftet der Bund. Der wird den Teufel tun, sich seine Kreditwürdigkeit von den Berlinern kaputt machen zu lassen. Natürlich wird der Bund die Schulden nicht übernehmen. Im Gegenteil: Die schicken dann ein paar Verwaltungsbeamte, die das Sparen für Sarrazin erledigen. Und zwar erst recht.

9. November 2008: Überall in der Stadt hängen Deutschlandfahnen und Transparente aus den Fenstern „Wir zahlen die Schulden nicht“. Bei uns im Hinterhof auch. Da heißt es allerdings: „Wir zahlen die Mietschulden nicht“. Unser Vermieter ist verzweifelt. Er zahlt jetzt auch nicht mehr. Seither stapelt sich der Müll im Hof. Wir haben heute auch einen Lappen auf unserem Balkon aufgehängt. „Die Reichen sollen zahlen“ steht drauf. Die Idee von Grottian setzt sich allmählich durch. Seit einem Jahr versucht der alte Recke dem Senat klar zu machen, dass er nicht einfach den Spardruck nach unten weitergeben darf. Sondern nach oben. Statistisch gesehen haben in Zehlendorf der Wohlstand und die Zahl der Wachleute zugenommen im letzten Jahr. Auch mit dem Ku’damm soll es wieder bergauf gehen. Das passt doch nicht zu der Verdopplung der Hartz-IV-Empfänger in nur einem Jahr. Knake-Werner jedenfalls hat die Message verstanden. Sie verzichtet seit zwei Monaten auf die Hälfte ihres Senatorengehalts. Ob Wowereit ebenfalls schon statt Sekt Selters kalt stellt, ist unklar. Klar ist, er fürchtet Imageverlust, seit bekannt ist, dass selbst die Gewerkschaften an den Lumpendemos, die im neuen Jahr vor den Botschaften reicher Länder geplant sind, mitmachen will.

25. November 2008: Man glaubt es nicht: Jetzt hängen schon an fünf Balkonen in unserer Straße „Die Reichen sollen zahlen“-Lappen. Die gestrige Montagsdemonstration der Hartz-IV-Empfänger soll auch wieder Zulauf haben. Grottian wurde gefragt, wie er das meine mit: Die Reichen sollen zahlen. Er sagt: „Es muss ein Notopfer Berlin geben.“ Eine Reichensteuer. Die Reichen sind doch nur dann wirklich reich, wenn das Gemeinwesen intakt ist. Die Wohlhabenden sollen die Geschichte studieren. Hochmut käme vor dem Fall. Man könne den Rechten doch nicht das Terrain überlassen. Recht hat er. Man wird ja mal hoffen dürfen.

17. Dezember 2008: Bei uns im Hinterhof ist ein Wunder passiert. Zusammen mit dem Vermieter haben die Arbeitslosen, die hinten wohnen, den Müll weggebracht. Sie wollen das jetzt regelmäßig machen. Einer hat sogar freiwillig den Hof gekehrt. Sie duzen jetzt den Vermieter. Er hat sich, erzählt er, auch ein Plakat ans Fenster gehängt: „Die Reichen sollen zahlen. Ich tu’s schon“ steht drauf.