„Klärung? Pfui!“

Die Ära der furchtlosen Dilettanten, als Qualifikation nichts, das Kollektiv dagegen alles war: Ein Gründer erinnert sich an die Anfänge der taz hamburg zwischen Grabenkämpfen und totaler Rotation

von TOM SCHIMMECK

Mit 18 war ich leicht zu beeindrucken. Mir imponierten diese Leute, die sich im schummrigen Hinterzimmer einer Hamburger Szenekneipe unten am Fischmarkt trafen. Ein bunter Haufen, eine verschworen wirkende Gemeinschaft. Die meisten studierten irgendetwas – Soziologie, Jura, Medizin oder wirklich Weltveränderndes wie Germanistik. Sie tranken ständig Kaffee oder Bier, um die Kehlen zu befeuchten. Denn sie redeten sehr, sehr viel.

Schreiben im Kollektiv

Das war die „Taz-Initiative Hamburg“, eine von vielen im Land. Doch schon damals besonders gefürchtet. Sie galt als superprinzipiell und vehement basisdemokratisch. Außenstehende – auch die tazler in Berlin – bezweifelten, dass sie je irgendetwas zustande bringen würde. Die „taz“ erschien noch nicht. Alle paar Wochen produzierten die versammelten deutschen Initiativen eine Nullnummer. Selbst im Hamburger Hinterzimmer entstanden Texte, oft in harter Kollektivarbeit der Arbeitsgruppen geschmiedet. Die Debatten darüber zerrissen uns regelmäßig. Aber ich erinnere, dass wir etwa beim Thema Punk ganz vorne waren.

Konspirative Wesen

Ein Freund aus meiner Groß-WG hatte mich mitgeschleppt. Ich war wohl der Jüngste, das Nesthäkchen. Da ich noch nicht so gut reden konnte, hörte ich meistens zu. Es war spannend. Natürlich waren wir alle links. Aber es fühlte sich anders an, als ich das aus Parteien und K-Grüppchen gehört hatte: Witziger, individueller. Da saßen die eher vergeistigten Globalphilosophen mit den entsprechenden Brillengestellen, und die eher Handfesten, die sich um die harte Arbeitswelt kümmern wollten. Da brachten sich aufgeweckte Jungmediziner ein, die sich vor ihrer Zunft grausten und hübsche Frauen, die es mit Macht zur Kultur zog. Dazu diese stets konspirativ wirkenden Wesen mit leise wiegendem Gang, die mit einem halben Bein im politischen Untergrund zu stehen schienen. Das Motto der Bremer Stadtmusikanten hätte auf diesen Haufen gepasst: Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.

Nein. Wir wollten keinen neuen Kader schmieden, sondern ein Licht anzünden in diesem düsteren Hamburg, wo es nur Springer-Zeitungen gab, die Mopo und einen NDR, den die CDU gerade flach zu klopfen begann. Lauter Medien, die in unseren Augen meist logen, die Verblödung vorantrieben und konsequent die falschen Fragen stellten. Die Bundes-taz aus Berlin reichte bald nicht mehr. Ein Hamburg-Teil musste her. Damit wir jeden Tag aus dieser Stadt über diese Stadt für diese Stadt schreiben konnten. Besser, wahrer und, hähemm, schöner.

Mit klammen Fingern

Doch zunächst kam der 17. April 1979. Der erste Tag der täglichen taz in Deutschland. Wir hatten ein Büro in Ottensen angemietet, eine klamme Ladenwohnung mit Ofenheizung. Der Komfortfaktor war eher niedrig. Im Winter dauerte es ewig, bis die Bude warm wurde. Also tippte man morgens mit klammen Fingern, die man zwischendurch an der Kaffeetasse wärmte. Das klingt ein bisschen, als wenn Opi vom Krieg erzählt.

Meine Ehrfurcht vor den Großdiskutierern sank schnell. Das Aha-Erlebnis kam am Tag vor der Stunde Null, als wir die erste echte Tageszeitung machen, plötzlich richtig Journalist sein sollten: Gucken, was bei uns in der Stadt passiert, es begreifen, überprüfen und aufschreiben. Am Nachmittag war unerbittlich Redaktionsschluss. Keine Zeit für ein langes Plenum. Ich glaube, an diesem Tag waren wir zu zweit.

Schimpfwort Profi

Zuvor mussten wir ein halbes Jahr diskutieren, ob das Redaktionsbüro der zweitgrößten Stadt Deutschlands wirklich einen zweiten Telefonanschluss braucht. Einigen von uns erschien solch eine technische Aufrüstung als Symbol für „Profijournalismus“. Das war über Jahre das tödlichste Schimpfwort. Man durfte andere Miesmuffel, Querulant, Verräter, in Extremfällen sogar Sozialdemokrat nennen. Aber nicht „Profijournalist“. Denn das waren diese abgehobenen, total abgewichsten Typen, die für viel Geld alles schrieben. Nur nicht das Wesentliche. Wir fühlten uns ganz anders. Wir waren arm, ernsthaft und voller Träume.

Ich gestehe, dass ich für einen zweiten Telefonanschluss war. Und bald für noch viel mehr. Es schien mir trotz aller Symbolik wichtig, dass eine Zeitungsredaktion zumindest theoretisch Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen kann. Ansonsten wusste ich vom Journalismus etwa so viel wie die anderen: Nichts. Ich glaube, wir in Hamburg hatten tatsächlich alle null Dunst. Vielleicht waren wir deshalb so besonders vehement basisdemokratisch. Ein Händchenhalten der Unwissenden?

Mein Kollege Andreas Orth, der unser erster richtiger Rechercheur wurde und sein Material bis heute in Ordnung hält, hat mir einige Zettel von damals gemailt. Den Bauantrag für das Obergeschoss der alten Dralle-Fabrik am Nernstweg etwa, wo die taz hamburg ihren Anfang nahm, mit Redaktion, Fotolabor, Satztechnik und Layout. Wir organisierten Schreibtische, Lampen und Aktenschränke second hand, zogen Zwischenwände aus Leichtbausteinen und Glas ein und hatten nun sogar schon vier Leitungen nach draußen in die böse Welt. Im Bauantrag nannte sich diese künftige Wirkungsstätte von 15 verrückten Zeitungsmachern übrigens „Archivräume mit eingeschränkter Büronutzung“.

Alles rotierte täglich

Wir waren völlig frei. Die Hölle kochten wir uns selbst. Wir schonten uns nicht, schenkten uns nichts. Schon rein physisch waren diese Dauerdebatten oft die Härte. Seliges Vergessen. Als ich zwanzig Jahre nach taz-Gründung einige Tage in der Berliner taz-Zentrale verbrachte, war ich ganz begeistert von der sympathisch-sachlichen Atmosphäre.

Unser Problem damals: Wir waren nicht nur unwissend, sondern auch ein bisschen bescheuert. In unserem Bestreben, ganz anders zu sein und alles völlig anders zu machen, durfte es überhaupt keine Hierarchien geben. Wir waren Gefühlsanarchos: Keine Macht für niemand. Alles rotierte möglichst täglich. Ewig debattierten wir über die Frage, wie man ohne Chef eine Zeitung machen könnte. In einem Papier stand: „Entscheidungsstrukturen (Klärung? Festlegung? (Pfui!))“ .

Wunde Seelen

Der Kampf tobte über Jahre: „Basisfraktion“ gegen die „Profifraktion“. Wobei „Basis“ immer gut und „Profi“ eigentlich Scheiße war. Wobei immerhin auch bald klar war, dass man nicht jedes Flugblatt 1:1 ins Blatt heben kann. Das Miteinander war das Anstrengendste. Gerade weil wir keine Chefs, nicht mal einen Chef vom Dienst hatten. Keiner sagte ehrlich: Das kannst Du, das nicht. Stattdessen: Survival of the fittest. Weil man nicht offiziell herrschen durfte, wurde hintenherum geboxt. Die Debatten gewannen an Pathos. Die Seelen waren oft wund. Ich weiß noch, was ich einer Kollegin am großen Plenumstisch zubrüllte, als ich schließlich die Brocken hinwarf: „Man stirbt nicht am Stich deines Messers, sondern an der Blutvergiftung, die dessen rostige Klinge hinterlässt!“

Trotzdem: Ein Spaß, ein Abenteuer. Die Einheit von Kopf- und Handarbeit: Morgens planen, nachmittags schreiben, abends verkaufen. Spätabends zogen wir, meist zu zweit, durch die Kneipen in Altona, Eimsbüttel, Eppendorf, Winterhude und boten die druckfrischen Blätter feil, mit denen die taz-Fahrer jeden Abend aus Burgdorf bei Hannover heranbretterten. So hatten wir Sofortkontakt mit dem gefürchteten Leser. „Was hast’n du da gestern wieder für’n Mist geschrieben, Alter, ey?“ Das war sogar für uns auf die Dauer denn doch zu hart.

Hausverbot bei Druckern

Noch härter waren die regelmäßigen Besuche: Hafenstraßler, Antiimpis und all die anderen, denen wir gerade nicht radikal genug waren. Die zogen nicht zum gut bewachten Springer-Verlag, sie kamen zur taz hamburg – the softest target in town. Als hätten wir ein Schild an der Tür: Nur hereinspaziert, all ihr Mühseligen und Beladenen. Raucht unsere Zigaretten, trinkt unser Bier, saut unseren Konferenzraum voll, haltet uns von der Arbeit ab, pöbelt uns an. Und wenn Euch das nicht befriedigt: Kippt das Archiv aus dem Fenster. Ich hätte heulen können, als große Teile meiner in nächtelanger Qual geschaffenen Hängeregistratur das erste Mal durch den Nernstweg flatterten. Bei den alternativen Druckern im Stockwerk unter uns hatte ich eine Zeit lang Hausverbot – wegen „sozialdemokratischer Tendenzen“.

Das tägliche Zeitungsmachen veränderte die Initiative enorm. Bald zählte das Produkt mehr als das Prinzip. Überzeugungen blieben wichtig. Natürlich wollten wir ganz anders sein als die Zeitungskollegen, die das schon immer und immer gleich machten. Unsere Vier-Seiten-Zeitung sollte nichts zu tun haben mit dem klebrig-tantigen Abendblatt und der gröhligen Mopo, mit Bild sowieso nicht. Wir fühlten uns wie Piraten, die sich dem fetten Hamburger Hafen näherten. Nie war dabei von Geschäftsmodellen, Marktanteilen oder Werbung die Rede. Wir vertrauten einfach darauf, dass wir irgendwie einfach immer mehr Leser finden würden, die uns beim Schreibenlernen zuschauen und dafür zahlen würden, dass wir ihre Nerven aufs Äußerste strapazierten.

Geistige Kontamination

Mein erstes Pseudonym war Columbo – weil ich bald mit schmuddeligem Trenchcoat und leicht schiefer Haltung ins Rathaus zu schleichen pflegte, um über die offizielle Politik der Stadt zu berichten. Meine Fragetechnik war vermutlich ähnlich wirr wie die des Kommissars. Einigen bei der taz war das ganze Treiben unheimlich. Das waren Operationen im Feindesland. In diesem etablierten Rathaus zwischen lauter Schlipsträgern fürchteten sie geistige Kontamination. Was ich heute, mit Blick auf den aktuellen Politjournalismus der Berliner Republik, ein bisschen besser verstehe als damals.

Damals war es aufregend, in diese fremde Welt mit ihren exotischen Ritualen einzutauchen und sie zu beschreiben. Herrlich, wenn einem ein Abgeordneter in der Drehtür des Rathauses zuzischelte: „Sie haben alles kaputtgemacht!“ Oder wenn man bei einem Empfang mal richtig gut essen und trinken konnte. Einige Etablierte hatten uns sogar ganz gern. Wir mochten Stümper sein, aber wir waren wenigstens nicht langweilig. Und obendrein fleißig.

Drinks im Senatsgehege

Eines Nachts fand ich mich – nach einer überlangen Bürgerschaftssitzung – oben im „Senatsgehege“ wieder, im Dienstzimmer des Vizeregierungschefs, wo nämlicher dem SPD-Sprecher, zwei Menschen von Bild und meiner Wenigkeit scharfe Drinks einschenkte. Zu stark fortgeschrittener Stunde öffnete sich die Flügeltür und der Bürgermeister trat herein.

„Ihr habt’s aber nett hier“, sprach Klaus von Dohnanyi, die Silben ineinander laufen lassend, und plumpste in den Sessel neben mir. Dann fixierte er mit einem kampfeslustigen Grinsen den ungewohnten Gast und sprach: „Wieviel arbeiten Sie eigentlich so die Woche, Herr Schimmeck.“ Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich wohl auf etwa 60 Stunden käme.“ „Also gemessen an dem, was dabei rauskommt“, das Grinsen wurde noch breiter, „können es höchstens 20 Stunden sein.“ Das Bild-Duo fand’s wunderbar.

Natürlich waren wir auch ganz toll: Wagemutig, aufopferungsvoll, idealistisch. Das Studium ließen wir schleifen oder gleich sterben. Hatten kaum Geld, manche auch keine Versicherung. 25 Jahre vor der Generation Praktikum arbeiteten wir für fast nichts – außer dem guten Gefühl, etwas völlig neues, radikal anderes zu machen. Nur waren wir unsere eigenen Praktikanten, piesackten uns eigenhändig, scheuchten uns selbst herum.

Unfassbare Hybris

Die Gewerkschaft DJU (heute Ver.di) wollte uns anfangs nicht aufnehmen, weil sie unsere mickrigen Einheitslöhne „gewerkschaftsfeindlich“ fand. Immerhin: Es war eine Superausbildung. Manchmal auf Kosten der armen, armen Leser. Unsere Ahnungslosigkeit kompensierten wir mit viel furchtlosem Elan. Was überhaupt das Verblüffendste im Rückblick nach einem Vierteljahrhundert ist: Diese Unerschrockenheit. Unfassbar erscheint diese Hybris, alles irgendwie packen zu können. Wir waren totale Dilettanten und legten einfach los.

Hinweis: Tom Schimmeck, 46, Mitgründer der taz und für diese in Hamburg, Bonn und Berlin tätig. Danach Redakteur bei Tempo und Spiegel, anschließend Reporter in Peru und Kambodscha. Heute arbeitet er unter anderem für Merian, Geo und Die Zeit.