Rufer aus dem Elfenbeinturm

Orhan Pamuk erhält den Literatur-Nobelpreis: Doch die Verquickung von politischen Motiven mit literarischen Weihen stößt manchen unangenehm auf

VON DANIEL BAX

Als Orhan Pamuk in den Achtzigerjahren die ersten Male auf Lesereise nach Deutschland kam, da bestand sein Publikum noch fast ausschließlich aus türkischen Intellektuellen der Gastarbeitergeneration, politischen Exilanten sowie kulturbeflissenen Einwandererkindern. Seine Bücher waren damals noch nicht auf Deutsch erhältlich und Pamuk gastierte in Stadtbüchereien und Gemeindesälen. Es war diese Erfahrung in der deutsch-türkischen Diaspora, die ihn später zu seiner Figur des Schriftstellers Ka inspirierte, dem aus dem deutschen Exil in die osttürkische Kleinstadt Kars zurückgekehrten Icherzähler aus seinem letzten Roman „Schnee“.

„Schnee“ wurde ein Welterfolg und machte Pamuk einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Mit seinen früheren Romanen wie „Die weiße Festung“ und „Mein Name ist Rot“ hatte er zumindest hierzulande zuvor nur kleinere Kreise erreicht. „Schnee“ aber bugsierte ihn ins Rampenlicht: Schon bevor der Roman im Frühjahr 2005 auf Deutsch erschien, hatte Pamuk mit ein paar beiläufigen Äußerungen gegenüber dem Schweizer Tagesanzeiger über den tabuisierten Umgang mit Kurden und Armeniern in seinem Land für Rummel gesorgt; in Istanbul zettelten übereifrige Nationalisten ein Gerichtsverfahren gegen ihn an. Das Verfahren wurde im Januar eingestellt, doch das nationalistische Getöse seiner Gegner sorgte in Europa für Verstimmung. Dass Orhan Pamuk im Oktober 2005 auf der Frankfurter Buchmesse mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, musste auch als Geste an den bedrängten Autor – und für die Meinungsfreiheit in der Türkei – gesehen werden.

Es ist diese Verquickung von politischen Motiven mit literarischen Weihen, die manchen in der Türkei unangenehm aufstößt. Selbst ein Pamuk-Freund wie der Schriftsteller Ahmet Altan beklagte anlässlich der Friedenspreis-Verleihung vor gut einem Jahr in der FAZ: „Europa erweckt den Eindruck, als messe es Autoren, die außerhalb seines Territoriums leben, mehr an ihrem politischen Mut als an ihrem literarischen Wert.“ Es sei, als hielte man, „wenn Émile Zola Pakistani wäre“, sein „J’accuse“ für wichtiger als sein „Germinal“.

Eingefleischte Gegner von Orhan Pamuk, die meinen, dieser habe mit seinen politischen Statements schon immer auf den Nobelpreis geschielt, können sich durch die Entscheidung der schwedischen Akademie nun bestätigt fühlen. Zwar führt die Nobelpreis-Jury in ihrer Begründung ausschließlich literarische Motive für ihre Auszeichnung an. Doch die Ehrung fügt sich gut in die jüngsten Beschlüsse der Akademie, den Preis an Autoren wie Dario Fo, Günter Grass, Elfriede Jelinek und Harold Pinter zu vergeben, die stets auch politisch in Erscheinung getreten sind.

Als dezidiert politischer Autor hat sich Orhan Pamuk gleichwohl nie begriffen, im Gegenteil: Nachdrücklich pochte er auf das Recht, als Schriftsteller in einem Elfenbeinturm zu hausen: Dies sei ein notwendiger Schutz gerade in einem Land wie der Türkei, das an Überpolitisierung leide. Der Spross einer gutbürgerlichen Industriellenfamilie, der mit Kafka, Mann und Dostojewski im europäisch geprägten Teil Istanbuls aufgewachsen war, widmete sich in vielen seiner Bücher historischen Themen, die man aber stets auch als Allegorie auf die moderne Türkei lesen konnte. „Schnee“ war sein erster explizit politischer Roman und, nach seiner Auskunft, auch sein letzter.

Dennoch hat sich Orhan Pamuk nie gescheut, politisch Stellung zu beziehen, wo es nötig war. Als einer der ersten Autoren verurteilte er vorbehaltlos die Fatwa gegen Salman Rushdie, die der greise Chomeini in Teheran ausgesprochen hatte, und gegen die Kurdenpolitik seines Landes nahm er mehrfach öffentlich Stellung. Aus diesem Grund lehnte er den höchsten Kulturpreis der Türkei ab, der ihm angetragen worden war, und setzte sich für seinen betagten Kollegen Yașar Kemal ein, als dieser 1995 für seine Kritik an der Kurdenpolitik angeklagt wurde.

In der Türkei selbst galt übrigens der Schriftsteller Yașar Kemal lange Zeit als aussichtsreicher türkischer Kandidat für den Nobelpreis. Anders als Kemal, der für seine sprachmächtigen Epen aus den Sagen und Mythen des ländlichen Anatoliens schöpfte, verkörpert Orhan Pamuk jedoch die moderne und ubane Seite der Türkei. Und diese erlaubt dem westlichen Leser einen leichteren Zugang.