Das System der Klaglosigkeit

Sudhir und Katharina Kakar erklären in ihrem neuen Buch der westlichen Welt die Inder. Knapp, klar und klug vermitteln sie, was deren Gesellschaft trotz Spannungen zusammenhält

Kann das eigentlich zusammengehen: Hinduismus und Psychoanalyse, das indische Familiensystem und Ödipus?

Es kann – zumindest bei Sudhir Kakar, Indiens berühmtestem Psychoanalytiker. Vermutlich ist er auch weltweit der einzige Analytiker, der einen Bachelor in Ingenieurwesen hat und zudem noch Diplomkaufmann und Doktor der Ökonomie ist. Der 1938 in Uttaranchal geborene Hindu studierte in Gujarat, Mannheim, Frankfurt und Wien. Sein Lebenslauf weist ihn als einen der vielen kosmopolitischen Inder aus und verweist darauf, dass ökonomisches und tiefenpsychologisches Bewusstsein ziemlich eng beieinander liegen.

Abgesehen von Romanen, kulturvergleichenden Studien und Sachbüchern schrieb Kakar immer wieder über das indische Familiensystem, über die Beziehungen zwischen Mann und Frau, über die Rolle und Erziehung des Kindes auf dem Subkontinent. Passend zur diesjährigen Buchmesse legt er nun zusammen mit seiner deutschen Frau Katharina, einer Religionswissenschaftlerin, ein Buch vor, das dem Westler das indische Wesen erklärt.

Die Kakars wissen sehr wohl, worüber Westler staunen, was sie irritiert und fasziniert, wenn sie in Indien sind. Unter anderem ist es die Klaglosigkeit, mit der Menschen, die unter entsetzlichen Bedingungen leben müssen, ihr Schicksal hinnehmen. Doch: Weil der hierarchisch orientierte Inder das Kastenwesen verinnerlicht hat und die traditionellen Regeln von Familie und Geschlechterrollen akzeptiert, ertrinkt das Land nicht in Gewalt und Anarchie.

Folgerichtig heißt das erste Kapitel: Der hierarchische Mensch. Das zweite widmet sich dann der Erläuterung des Kastenwesen, und das dritte spricht über die indische Frau. Damit hat man schon mal die drei Pfeiler, auf dem das gesamte indische System fußt.

Inder lieben Vater und Mutter. Und sie suchen sie überall. In einem Vorgesetzten genauso wie in einer Bettlerin auf der Straße. Der streng lehrende Vater und die weiche, hingebungsvolle Mutter. Ein indischer Mythos, an den sogar die Inder selbst glauben, auch wenn er so gar nicht mehr stimmt. Der autokratische Vorgesetzte jedenfalls wird nicht nur akzeptiert, er wird sogar gewünscht. Er soll streng, aber gerecht sein, so wie ein ordentlicher Vater. Kakar behauptet, die Idealisierung von Führungskräften bringe bei aller Kritik auch mehr „esprit de corps“ hervor – möglicherweise eine Erklärung für den rasanten wirtschaftlichen Aufschwung Indiens.

Der Preis dafür liegt allerdings in einem Mangel an Teamwork – die Kakars erklären ihn mit der kultu- rellen Unfähigkeit, negatives Feedback geben oder annehmen zu können. Das oberste indische Prinzip sei das Stärken und Erhalten von Beziehun- gen, offene Kritik wird als bedrohlich empfunden. Auf der anderen Seite spielt jedoch in der Arbeitswelt die „menschliche Orientierung“, wie ganz allgemein in Südasien, eine viel größere Rolle als bei uns. Großzügigkeit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft sind selbstverständlich, Konfrontation und Durchsetzungsfähigkeit eher nicht. Interessant ist, dass die Staa- ten des „germanischen Europas“, gefolgt von denen Osteuropas, als aggressivste und durchsetzungsfähigste gelten.

Sexualität, Hygiene und Gesundheit sind die großen Themen des Alltags in Indien. Vor allem das Verhältnis der Menschen zur Hygiene ist faszinierend: Fast das ganze Land stinkt nach Fäkalien, aber die Menschen waschen sich unablässig und ihre Häuser sind innen von peinlicher Sauberkeit.

In der Interpretation dieser kulturellen Eigenart erweist sich die psychoanalytische Ausrichtung der Autoren als anregende und unterhaltsame Fundgrube. Von der Beschreibung des Umgangs mit den Kastenlosen, unberührbaren Dalits (seit Gandhi heißen sie „die Unterdrückten“), kommen die Kakars auf das kulturpsychologische Phänomen einer Gesellschaft schlechthin. Die Dalits sind nicht nur diejenigen, die all die Arbeit machen, die kein anderer machen will, sie müssen auch die Scheiße der Kasten beseitigen. So haben diese noch mehr Grund, sich vor den Dalits zu ekeln. Nicht nur, weil sie keinen Status haben, sondern auch, weil sie die Exkremente der anderen wegschaffen.

Das Leugnen der eigenen Dreckigkeit durch Projektion nach außen – auf Tiere, auf andere Menschen und Rassen. Auch Israelis lernen allerdings, dass Araber stinken, für Chinesen sind Tibeter dreckig, und wir hatten vor nicht allzu langer Zeit eine Entwicklungshilfeministerin, die wusste, dass Neger riechen.

Sudhir und Katharina Kakars Buch ist eine wahre Fundgrube für Indienkenner. Ob sie zu einem Besuch animieren, bleibt fraglich. Die Beobachtungen, ob über die Sexualität, Nationalismus oder den Hindu-Muslim-Konflikt, sind kluge Mischungen aus alter Kultur und lebendigem Alltag. Ein richtiges Standardwerk. RENÉE ZUCKER

Sudhir und Katharina Kakar: „Die Inder. Portrait einer Gesellschaft“. C.H. Beck, München 2006, 205 Seiten, 19,90 Euro