Das autoritäre Zeitalter ist vorbei

ERZIEHUNG Der Kinderarzt Remo H. Largo im Gespräch über die Vereinnahmung von Kindern durch ihre Eltern, das kostbare Gut Zeit und den Klassenkampf im Bildungswesen

■ 1943 geboren in Winterthur, war Largo bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor für Kinderheilkunde und leitete fast drei Jahrzehnte die Abteilung Wachstum und Entwicklung des Kinderspitals Zürich.

INTERVIEW OLE SCHULZ

taz: Herr Largo, der Boom der Ratgeberliteratur zu Kindheit und Erziehung reißt nicht ab. Sind denn Kinder heute wirklich schwieriger als früher?

Remo H. Largo: Nein, ich denke nicht. Aber für die Eltern ist es schwieriger geworden. In der Vergangenheit wurde Erziehung über Vorbilder tradiert. Man hat erlebt, wie mit Kindern umgegangen wird, und es dadurch gewissermaßen intuitiv erlernt. Heute fällt das weitgehend weg, weil wir in Kleinfamilien leben. Wenn Eltern heute ein Kind bekommen, sind sie zunächst Ignoranten, auch wenn sie irgendwelche Bücher gelesen haben. Denn Wissen kann die Vorbilderfahrung nicht ersetzen.

Warum nicht?

Ich denke, das gilt in allen Bereichen, in denen soziales Lernen eine Rolle spielt. Wenn sie sehen, wie etwas gemacht wird, ist es weit hilfreicher, als wenn sie nur lesen, wie man es machen soll.

Die Deutschen bekommen deutlich weniger und zudem erheblich später Kinder als früher. Ist das der Grund dafür, dass der Nachwuchs häufig mit übertrieben hohen Erwartungen überfrachtet wird?

Der Stellenwert eines Kindes hat sich völlig verändert. Früher sind Kinder schicksalhaft zur Welt gekommen, und oft waren sie auch eine Belastung. Seit der Pille sind Kinder für die meisten Eltern eine bewusste Entscheidung, die oft mit hohen Erwartungen verbunden ist: Wenn wir denn schon ein Kind haben, dann soll es auch ein Erfolg werden.

Was dazu führt, dass Babys zum Beispiel in Kurse für Frühenglisch geschickt werden?

Das ist eine Vereinnahmung des Kindes, die mir großes Unbehagen bereitet. Ein Kind kommt nicht zur Welt, um die Erwartungen seiner Eltern zu erfüllen.

Statt Kleinkinder zum Babyyoga zu schicken, müssten sie im Vorschulalter ganz andere, ganzheitliche Erfahrungen machen, sagen Sie …

Bis etwa zum fünften Lebensjahr geht es ja nicht darum, spezifische Fähigkeiten zu erlernen, sondern darum, Grundfähigkeiten auszubilden: die Sprache und das Sozialverhalten, die Kognition und Motorik. Und das passiert nicht, indem man dem Kind etwas beibringt, sondern indem es bestimmte Erfahrungen machen kann. Kinder lernen in erster Linie von anderen Kindern und weniger von Erwachsenen.

Aber die meisten Kinder gehen doch in einen Kindergarten? Und ab 2013 soll jedes Kind sogar einen rechtlichen Anspruch auf einen Kita-Platz haben …

Das stimmt, aber jedes Kind sollte spätestens im zweiten Lebensjahr jeden Tag mindestens drei Stunden mit anderen Kindern zusammen sein. Kinder plaudern unentwegt miteinander, schauen sich Verhalten voneinander ab und lernen gemeinsam. Erwachsene können diesen Aufwand niemals leisten.

Ihr Buch „Babyjahre“ wurde in seiner Erstausgabe bereits 1993 veröffentlicht. Seither hat der gesellschaftliche Wandel weiter an Fahrt gewonnen. Sie sprechen in Ihrem neuen Buch „Lernen geht anders“ von einer „Zäsur in der Menschheitsgeschichte“.

„Kinder lernen in erster Linie von anderen Kindern und weniger von Erwachsenen“

Das ist richtig. Eine dieser tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen ist die Planbarkeit der Familie durch die Pille. Ein anderer Paradigmenwechsel ist die Emanzipation der Frau, gerade auch im Bereich der Bildung. Mittlerweile sind Frauen im Durchschnitt besser gebildet als Männer. Das hat es in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben.

Aber einen anspruchsvollen Job zu haben und zugleich eine gute Mutter zu sein – geht das in unserer modernen Arbeitswelt überhaupt?

Wenn ich die unsinnigen Thesen von Sarrazin zu Migranten und dem Gebärverhalten von Frauen nehme, würde ich dagegen postulieren: In den nächsten fünf Jahren wird von Politik und Wirtschaft lautstark gefordert werden, dass Frauen stärker in den Arbeitsmarkt integriert werden müssen, weil sie ein Potenzial darstellen, das dringend gebraucht wird. Ich hoffe, dass dieser Prozess so abläuft wie vor zwei Generationen in Skandinavien: Die Frauen stellen mit aller Vehemenz Bedingungen, wie gearbeitet werden soll, wie gut die Kinderbetreuung zu sein hat und welche Rolle Frau und Mann in Gesellschaft und Wirtschaft einnehmen sollen.

Während Sie formuliert haben: „Beziehung kommt vor Erziehung“, sind mittlerweile andere pädagogische Ansätze in Mode – zum Beispiel, dass Kindern wieder Disziplin eingeimpft werden müsse. Woher kommt diese Renaissance des autoritären Erziehungsgedankens?

Bei Bernhard Buebs „Lob der Disziplin“ ist es reine Nostalgie. Ich bin aber überzeugt: Das autoritäre Zeitalter ist vorbei. Durch die Informationstechnologien lösen sich die herkömmlichen Hierarchien auf. Früher hatten Menschen, die lange gelebt haben, durch ihre Erfahrung Autorität erworben. Jetzt hat sich diese Hierarchie im gewissen Sinn umgedreht: Die Jungen haben durch die IT-Technologien mehr Wissen und damit auch mehr Macht. Doch viele Erwachsene tun immer noch so, als ob sie kompetent wären. Dabei sind gerade viele Lehrer nicht medienkompetent und deshalb bei den Jugendlichen auch nicht mehr glaubwürdig.

Gibt es denn eine Erziehung, die ganz ohne disziplinarische Maßnahmen auskommt? Schließlich müssen Kindern doch immer wieder aufs Neue Grenzen gesetzt werden?

Das ist eine typisch deutsche Haltung: Es ist undenkbar, dass es ohne Disziplin geht. Ich bin anderer Ansicht: Kinder gehorchen nicht, weil ihre Eltern Disziplin effizient durchsetzen. Erziehung wäre ein Albtraum, wenn es so wäre. Ob ein Kind gehorcht oder nicht, hängt von der Beziehung zu seinen Eltern ab. Und wenn sie eine gute Beziehung haben, wird das Kind auch einlenken. Das große Problem von Eltern und Lehrern ist: Beziehungen zu unterhalten braucht Zeit. Zeit ist in der Erziehung das kostbarste Gut geworden.

In Ihrem neuen Buch stehen nun Kinder im Schulalter im Mittelpunkt. Damit sind Sie mitten in der Debatte um die Zukunft des deutschen Schulwesens angekommen. Anstelle des Postulats „Fördern und Fordern“ sagen Sie, Kinder würden sich aus sich selbst heraus entwickeln …

Wenn Sie als Lehrer keine tragfähige Beziehung zu Ihren Schülern haben, dann müssen Sie die Schüler mit Prüfungen und Noten dazu zwingen, den Lernstoff auswendig zu lernen. Wenn aber eine gute Beziehung besteht, dann wollen die Kinder lernen. Darüber gibt es Studien, das ist keine Wohlfühlpädagogik. Ein Beispiel: In den ersten fünf Lebensjahren eignen sich die Kinder Sprache selbständig an, es sagt ihnen ja keiner: Zuerst kommt das Subjekt, dann das Verb und das Objekt, zusammen ist das ein einfacher Satz. Wenn die Kinder fünf Jahre alt sind, kommen wir und sagen: Jetzt bringen wir euch etwas bei. Das ist doch Irrsinn.

Von Remo H. Largo

■ „Lernen geht anders: Bildung und Erziehung vom Kind her denken“. Edition Körber-Stiftung, 31. 10. 2010, broschiert, 14 Euro

■ „Schülerjahre: Wie Kinder besser lernen“. Piper Verlag, München 2010 (Erstausgabe 2009), 12,95 Euro

■ „Kinderjahre: Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung“. Piper Verlag, München 2010 (Erstausgabe 1999), 9,95 Euro

■ „Babyjahre: Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren“. Überarbeitete Neuausgabe (Erstausgabe 1993). Piper Verlag, München 2010, 12,95 Euro

Sie fordern, dass kollektive Lernpläne und Noten abgeschafft werden. Im Zentrum solle das einzelne Kind stehen. Was schlagen Sie denn als Alternative zu Noten vor?

Es gibt in Deutschland und in der Schweiz bereits viele Schulen, die anders arbeiten. Wenn gute Beziehungen zwischen Schülern, Lehrern und Eltern und ein interessantes Umfeld bestehen, dann wollen Kinder lernen. Individualisierter Unterricht bedeutet ja nicht, dass der Lehrer jedem Schüler ständig eigene Aufgaben geben muss. Das ist gar nicht machbar. Die Kinder lernen miteinander und voneinander, jedes Kind stellt sich dann im Niveau selber ein. Das war schon früher in den altersdurchmischten Klassen in den deutschen Landschulen so.

Die Debatte um Reformen im Schulwesen geht zum Teil in eine ganz andere Richtung: mehr Reglementierung und mehr Leistungsdruck durch Zentralabitur, verkürzte Gymnasialzeit und Schulempfehlungen bereits in der 4. Klasse?

Das Beispiel der gescheiterten Schulreform in Hamburg hat meines Erachtens einmal mehr gezeigt: Das Problem der frühen Selektion und der gegliederten Schule ist keine Frage der Pädagogik, sondern eine politische. Der Autor Bruno Preisendörfer hat es auf den Punkt gebracht: Das ist nichts weiter als Klassenkampf im Bildungswesen. Es geht allein darum, dass ein Teil der Bevölkerung seine Bildungsprivilegien bewahren will.

Welche politischen Forderungen lassen sich aus Ihren Forschungen ableiten?

Man sollte so vorgehen, wie es uns Schweden bereits vorgemacht hat. Erstens: Die Schulen müssen autonom sein, das heißt, die Lehrer haben die volle Verantwortung und nicht irgendein Kultusministerium. Zweitens: Alle Schulen erhalten das gleiche Budget, es ist ihnen verboten, weitere Gelder zu akquirieren. Drittens: Es gibt freie Schulwahl für die Eltern. Das würde ich mir nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz wünschen. Aber ich befürchte, dass die verantwortlichen politischen Kräfte das nicht zulassen werden.