Samogon auf den Poeten

Frühstück bei Schewtschenko in dem kleinen Städtchen Kaniw, wo der ukrainische Nationalheilige begraben liegt. Mit Blick zum Fluss, zu den Inseln und den Wäldern

An diesem Hügel über dem Dnepr lässt sich die ukrainische Seele streicheln

VON THOMAS GERLACH

Kaniw ist viel zu klein geraten. Nach seiner Bedeutung für die ukrainische Seele müsste das Städtchen groß wie Kiew sein. Jedenfalls beinahe. Die früheren Stadtväter haben das wohl gespürt und in ihrer Stadt so viele Museen eröffnet und Denkmäler eingeweiht, dass sogar Kiew neidisch werden könnte. Diese Museen sind zwar bescheiden, und selbst, wenn die Hauptstadt dem kleinen Kaniw sämtliche Museen abschwatzen, abkaufen oder gar stehlen würde, das Grab von Taras Schewtschenko bliebe doch da, wo es der Maler und Dichter in seinen Versen bestimmt hat: oberhalb des silbrig glänzenden Dnepr in der 26.000-Einwohner-Stadt Kaniw – genau genommen oberhalb der Buswendeschleife am Ende der heutigen Schewtschenko-Straße.

Taras Schewtschenko – der Nationalheilige der Ukraine. So mancher prominente Platz, den bis zum Ende der Sowjetunion ein überlebensgroßer Lenin beherrschte, beherbergt heute ein ebenso großes Schewtschenko-Standbild. Taras Schewtschenko wurde am 25. Februar (neuer Kalender 9. 3.) 1814 in einem Dorf bei Kiew als Sohn von Leibeigenen geboren. Und brachte es zum Studenten der Akademie. Mit 26 Jahren erste Texte in ukrainischer Sprache, was ihm Anerkennung, aber auch heftige Kritik bescherte. Anerkennung für sein lyrisches Empfinden, Kritik deswegen, weil er die ukrainische Sprache verwendete, die vielen in St. Petersburg als ein primitiver Dialekt des Russischen galt. Schewtschenko trat in die geheime „Kyrill-Methodius-Bruderschaft“ ein, die sich für die Abschaffung der Leibeigenschaft und für die Gleichberechtigung aller slawischen Völker im Zarenreich einsetzte. 1847 wurde er verhaftet, zu lebenslangem Dienst als einfacher Soldat verurteilt und ans Kaspische Meer verbannt. 1857 kam er wieder frei, allerdings durfte Schewtschenko sich nicht in der Ukraine ansiedeln, sondern er lebte bis zu seinem Tod am 25. Februar (10. März) 1861 in St. Petersburg unter Polizeiaufsicht. Zwei Monate nach seinem Tod wurde der Leichnam in die Ukraine überführt. Und es verwundert nicht, dass sowohl Präsident Leonid Kutschma wie auch sein Nachfolger Wiktor Juschtschenko sein Grab in Kaniw besucht haben. An diesem Hügel über dem Dnepr lässt sich die ukrainische Seele streicheln.

Da wo der Flusshafen ist und wo die viel zu vielen Stufen hinaufführen, da wacht der ukrainische Nationalpoet wie ein bronzener Titan. Da bleibt mancher vor Ehrfurcht lieber unten, wo schon das Holzfeuer qualmt, darüber Schaschlik brät und Bier gezapft wird. Da oben irgendwo liegt der Dichter begraben, über den Baumwipfeln lugt sein Denkmal hervor. Man kann den Dichter ehren, man kann aber auch bei der Hitze in die Fluten des Dnepr springen. Und man kann möglichst regungslos im Schatten der Pappeln sitzen, Limonade trinken und ein zweites Frühstück einnehmen, wie das die drei Verkäuferinnen vom Schaschlikstand tun. Ab und zu wandert natürlich auch ein Schluck Samogon, wie der Selbstgebrannte genannt wird, in ihre Münder.

Für Kundschaft ist es noch zu früh. Gerade ist der erste Bus mit einer Schulklasse herangerollt. Ein Schwarm von Halbwüchsigen lärmt die Eisentreppe hinauf, vorbei an den Ständen mit den bestickten Decken und Ukrainerblusen und der Frau, die ihre eigenen Gedichte feilbietet. Oben angekommen posieren die Mädchen auf der Balustrade der Terrasse für die Fotoapparate der Jungs. Dabei blicken sie sehnsuchtsvoll mit Schewtschenko-Blick zum Fluss, zu seinen Inseln, zum flachen Ostufer mit den Wäldern und dieser Weite, dass man glauben könnte, die Ukraine wäre grenzenlos.I

Der Rasen auf dem Grabhügel ist geradezu englisch akkurat geschnitten. Darüber erhebt sich das Postament, auf ihm steht der Dichter mit Walrossbart und strengem Gesicht, eine Hand auf dem Rücken, die andere in der Manteltasche, Blick über den Fluss. Gelegentlich zieht ein Kahn vorbei. Der eine bringt Steine flussauf nach Kiew, der andere Schrott zu den Hochöfen von Zaporizzja und an der Anlegestelle blubbert der Diesel der strahlend weißen „General Koschewoj“. Das Kreuzfahrtschiff ist von Kiew gekommen und soll am Abend wieder umkehren.

Am Fluss sitzen die drei Verkäuferinnen im Schatten von Pappeln und frühstücken immer noch – Tanja, Lena und Olja, die so dick ist, dass sie nicht mehr in den Stuhl passt und mit einem Eisenhocker vorlieb nehmen muss. „360 Stufen sind es hinauf“, sagt ihr Chef, der sich dazugesellt hat, in einem Ton, dass jeder weiß, der Mann war Jahre nicht mehr oben. Er blickt hinauf zum Denkmal, das aus den Baumwipfeln schaut. Von hier aus betrachtet, könnte es genauso gut ein bronzener Lenin sein.

„Anstrengend ist das“, bekräftigt der Inhaber des Schaschlikstandes, scheucht mit dem Hinweis auf Kundschaft die Frauen hoch und greift zum Glas. Augenblicke später sitzen sie wieder beisammen und Olja verrät ein Rezept: 6 Kilo Zucker, ein halbes Kilo Hefe, 30 Liter Wasser, zwei Wochen warten und dann brennen – ergibt 6 Liter Samogon zu gut 50 Prozent. Der auch bald wieder nötig sein wird, denn die Vorräte gehen zur Neige. Und während sie so redet und mit zarten Fingern und kräftigem Arm das Gläschen vor ihrem kirschroten Mund hält, kommt ein Hubschrauber in den Nationalfarben Blau und Gelb geflogen, kreist über dem Grabhügel und filmt mit einer Kamera minutenlang den bronzenen Dichter wie ein Naturschauspiel.